Die Fähigkeit zu konsumieren ist ein zentrales Statussymbol einer erfolgreichen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Kaufen, Sammeln, Reisen, Besitz – ist da noch Platz für das fundamental Menschliche? Doch was, wenn die neoliberale Regierungsform von diesem Motto, vom blinden Fortschrittsglauben und der Hoffnung auf eine optimierte, weil technologisierte Zukunft absehen müsste? Würde unserer Gesellschaft dann nicht auf einmal irgendwas fehlen? Was, wenn dem „Mehr! Mehr! Mehr!“ der Rücken gekehrt wird?
Schopenhauer, einer der wichtigsten Denker des 19. Jahrhunderts, stellte sich fast die gleichen Fragen, wie wir es heute tun: Was braucht der Mensch? Wenn wir es doch besser wissen, warum herrscht dennoch Zerstörungsdrang? Nach Schopenhauer ist das Leben vor allem eins: Leiden – und jeder, der am Leben teil hat, ist im Teufelskreis von Leid und Langeweile gefangen. Alles was wir wollen, ist leben und besitzen. Und dies koste es, was es wolle. All unsere Gefühle sind diesem konstanten, drängenden Wollen unterlegen: Ich will essen, atmen, wachsen, sehen, gesehen werden, hier sein, mehr haben, besser sein, schneller, reicher – mehr als der andere – Ruhm und Status, ich will mein Leben! Diesen inneren Willen kann ich nie befriedigen, sagt Schopenhauer. Sobald ich eine Lust stille, kommt eine andere auf oder ich verfalle der Langeweile, bis ich erneut Sehnsucht habe.
Bedient wird das Narrativ des ständigen „Mehr-Wollens“, des „Mehr-Brauchens“ durch die ununterbrochene Konfrontation mit den Illusionen, die für uns „Wohlstand“ und „Freiheit“ darstellen sollen. Das Wohlergehen, das in erfüllten körperlichen und physischen Bedürfnissen und individueller Entscheidungsfreiheit besteht, ist dabei nicht gemeint. Wohlstand hei߆ eher, dass es mir gut geht, dass ich alles haben kann, dass ich alles machen darf, was ich will. Dass ich mir bestellen kann, was ich gerade möchte. Dass ich dorthin reisen kann, wo es mir gerade passt. Die Einschränkungen, die mit der Corona-Pandemie einhergingen, triggerten empörte Aufschreie, die laut wurden, als man nicht mehr ins Restaurant gehen durfte – die vermeintliche Freiheit sah sich angegriffen.
Doch sind dies wirklich Bedürfnisse? Ist Konsum ein „Need“ oder eher ein „Want“? Kann heute, wer im westlichen Speckgürtel wohnt, noch differenzieren, was es eigentlich wirklich braucht, um Mensch zu sein, um leben zu können? Sind mit dem Konsumzwang und der Notwendigkeit eines nie endenden Wirtschaftswachstums neue Bedürfnisse geschaffen worden, die eigentlich nicht lebensnotwendig sind, deren Nicht-Erfüllen aber immer mehr Druck auf den Menschen ausübt? Beim Statec beschäftigt man sich damit, Budgets für das dezente Leben in Luxemburg auszurechnen. 2022 belief sich der finanzielle Grundbedarf eines Zwei-Personen-Haushalts auf fast 3000 Euro. Natürlich verschlingen die Wohnkosten den Großteil davon, aber ebenso enthalten, und für einen Lebensstil ausschlaggebend, der vor sozialer Exklusion schützen soll, sind monatlich neue Kleider, Multimediageräte und ähnliches. Diese Bedürfnisse waren vor einigen Jahren noch anders aufgeschlüsselt, Smartphones und dergleichen waren kein Must.
Heute regiert der schnelllebige Konsum. Diese Idee des „Besitzens“ oder „Brauchens“ vermählt sich demnach wunderbar mit politischen Slogans. Ob sie nun rötlich sind, – „Jeder muss die Chance haben, alles machen zu können, was er mag“ – oder bläulich, – „Jeder darf alles machen, was er mag“ – stets wird die Idee propagiert, dass die Freiheit des Individuums daran festgemacht ist, sich so auszuleben wie man möchte; sich das zu kaufen, das man gerade begehrt. Doch ist dies Freiheit? Vor allen Dingen auch noch auf Kosten der ausgebeuteten Länder des Globalen Südens, die dem unsäglichen Ressourcenverbrauch unserer Industrien ausgeliefert sind. Die indigenen Völker sind uns teilweise um Meilen voraus, gerade weil sie der propagierten Fortschrittsidee nicht zum Opfer gefallen sind. Zentral ist für sie weiterhin ein Grundbedürfnis des menschlichen „Bios“: der Kontakt zur Natur. 80 Prozent der noch intakten Natur gibt es dort, wo die indigenen Völker leben.
Albert Camus schrieb bereits 1951, dass in der Moderne Überschreitung normalisiert wurde. Wenn das grenzensprengende Mehr die Bedürfnisse des menschlichen Systems überschreibt, leben wir im Absurden, argumentiert Camus. Diese Einsicht ist von einschneidender Aktualität. Zwar sind die Spielräume, in der der Mensch sich selbst anhand seiner eigentlichen Bedürfnisse Orientierung geben kann, enger geworden, aber keinesfalls unzugänglich. Camus plädiert dafür, sich in Mäßigung zu üben. Kann der Mensch dies? Ja, denken wir an Herder, der in der Vorstellungskraft des Menschen eine existenzielle Beschaffenheit erkannte: Wir können reflektieren, planen, kreieren, Lösungen finden. Wir sind rationell genug, um zwischen Bedürfnissen und Begehren differenzieren zu können – wir können uns selbst in der großen Weite der Überfülle einen Rahmen geben, wo das, was für unser Leben zentral ist, nämlich Natur und Gemeinschaft, Kreativität und Aktivität, blühen kann.
Wollen wir wissen, was der Mensch grundsätzlich zum Leben braucht, dann müssen wir zunächst wissen, was der Mensch eigentlich ist. Der Mensch ist seit jeher Gegenstand philosophischer Untersuchungen, zentral für das Denken ist der Denkende. Von der Spätantike über das Mittelalter bis in die jüdisch-christliche Tradition hielt sich die alttestamentliche Annahme, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes sei. Mit dem Aufstieg der Moderne und den säkularen Bewegungen erodierte diese Deutung. Die seit der Antike bestehende „andere“ außermenschliche Kategorie, das Tier, musste zum Vergleich herhalten, wenn das Göttliche nicht mehr als Bezug dienen konnte. So wurde der Mensch als „Bios“ mit dem, was ihn mit dem tierischen „Bios“ vereinte oder von diesem trennte, diskutiert. Biologisch bestimmt sind wir durch unser Geboren-Sein, dadurch, dass wir wachsen und sterben, durch unseren Körper und dessen Nöte: Hunger, Durst, Müdigkeit und Fortpflanzung. Die Frage, die sich bald stellt: Sind wir denn bloßes Tier? Die Bedürfnisse des Menschen sind in dieser Hinsicht deutlich: Nahrung, Wasser, Unterkunft, Schlaf ... Aber ist dies alles?
Wie die Anthropologen Herder und Gehlen vor siebzig Jahren aufwiesen, sind wir keine vollständig funktionsfähigen Tiere, wir sind „Mängelwesen“, mit reduzierten Instinkten und bescheidenen sinnlichen Fähigkeiten. Mit unserer bloß körperlichen Ausstattung würden wir nicht lange überleben. Wir haben weder scharfe Reißzähne, noch eine besonders gute Sicht, sind nicht wirklich stark und verlieren bereits wegen einer Stechmücke im Schlafzimmer die Nerven. Die These von Gehlen und Co. lautet daher: Wir müssen die biologische Dimension hinter uns lassen, damit wir überleben können. Wir müssen andere Lösungen finden, uns an das Umfeld anpassen, wir haben keine Krallen – wir brauchen Werkzeuge – und sind somit, wie es in Gehlens Schrift heißt, „ein biologisches Sonderproblem“.
Mit Blick auf die vergangenen Ären können wir sagen, dass der Mensch es irgendwie geschafft hat, seine biologischen Mängel auszugleichen; demnach muss es neben dem Körper noch etwas anderes geben: Geist? Verstand? Eine Fähigkeit zur Gestaltung sozialer Interaktion und Kooperation? Um es mit Odo Marquard zu sagen, wir sind „homo compensator“, Michael Landmann nennt uns „creatura creatrix“. Der Mensch findet Lösungen, um mit dem Leben umzugehen: Sprache, Werkzeuge, Technologie, Gesellschaft, Kreation, Reflexion, Projektion – auch dies scheinen notwendige Dimensionen des menschlichen Daseins. Diese spezielle „Stellung“ lässt sich durch die mentale und soziale Entwicklung des Menschen erklären. Das Entwickeln der eigenen Person (vom Säugling bis zum Senior) ist nicht bloß biologisch bestimmt. Etliche nicht-biologische Faktoren spielen hierbei eine besondere Rolle: Kommunikation, Denken, soziale Konstrukte und auch Bildung.
Auch René Descartes betrachtet den Menschen nicht als triebgeleitetes, sondern als schöpferisches Wesen. Der Mensch ist vernünftig, rational, er ist von Vernunft geleitet, er versteht, denkt und spricht – so urteilt der französische Denker aus dem 17. Jahrhundert. Wissen ist ein für die Lebensführung notwendiges Bedürfnis! Denn nur der rationale Mensch kann unabhängig von körperlichen Trieben aktiv werden – der Körper? Nicht mehr als eine Maschine, die dem Umsetzen der Pläne dienlich ist. Hunderte Jahre später stimmt Max Scheler zu. Wir sind geistige Wesen, frei und dazu fähig, die Welt zu verstehen. Wir können uns unabhängig verhalten: Wir können Nein sagen, uns entschließen, andere Wege zu gehen – über das Hier und Jetzt, das So, hinausschießen, es transzendieren, und so unsere eigenen Pläne gestalten. „Ein ‚geistiges‘ Wesen ist also nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ‚umweltfrei‘ und […]
‚weltoffen‘“, heißt es bei Scheler 1928.
Als freiheitsbejahend ging insbesondere Jean-Paul Sartre in die Philosophie-Geschichte ein. 1946 hieß es in einem seiner bekanntesten Essays, „dass der Mensch zuerst existiert, sich begegnet, in der Welt auftaucht und sich danach definiert“. Der Mensch ist also nichts, bevor er sich selbst kreiert. Das impliziert, dass wir frei entscheiden können, wer wir sind. Es gibt keine bestimmte menschliche Verfasstheit, es gibt keinen Gott, der uns sagt, wie wir zu sein haben – es gibt nur uns, indem wir uns selbst begegnen, als diejenigen, die wir sein wollen. Das Leben ist unsere Entscheidung, unser Plan, wir sind vollends verantwortlich für unsere Handlungen, für denjenigen, den wir uns entschließen zu sein und für unsere eigene Realität.
Sartres Existenzialismus ist klar: Wir haben ein Bedürfnis danach, frei zu sein, Frei-Sein ist unsere menschliche Bestimmung, zu der wir alle verdammt sind. Und nun gilt es, dies auszuhalten, dies zu leben und uns eine Zukunft zu gestalten, die „für uns“ ist, für die Menschheit.
Viele Jahre nach Sartre macht sich in der nördlichen Hemisphäre Entzauberung breit: Was bleibt von der Freiheitsidee? Krieg, Unterdrückung, Habgier? Egoismus, Hass und Gewalt? Leben wir frei? Autonom und unabhängig? Oder stetem Stress ausgesetzt? Sozialer Not? Konsumzwang? Finanziellem Druck?
Wiederkehr fällt nach der Abkehr manchmal schwer, jedoch gibt es einen Bereich, zu dem wir Menschen Zugang haben, der uns helfen kann, wieder auf den Ort aufmerksam zu werden, wo wir hingehören. Ein Reich zwischen Vernunft und Drang, zwischen Theorie und Praxis. Vage, ganz vage lässt sich nur beschreiben, was dem Menschen widerfährt, wenn er sich in ästhetischer Kontemplation verliert. Wenn er sich im Rauschen des weiten Ozeans oder beim Anblick des sattgrünen Nadelwaldes selbst vergisst, dann tritt er wieder mit dem in Verbindung, was ihm so nahe ist: das Leben, das Hier und das Jetzt, die unermüdliche Lebenskraft. Soll dem Menschen klar werden, dass er vom Besitz nicht überleben kann, müssen wir Räume finden, in denen diese Wiederverbindung mit Natur und Freiheit möglich wird; auf sachte, ästhetische Weise, die an das Sein im Mensch-Sein appelliert. Schöner Gedanken? Nicht nur, es ist unser aller Recht, Natur und Raum für Leben zu fordern und uns gegen graue Betonwelten, schnelllebigen Konsumramsch und wringende Markt- und Machtstrukturen zu wehren; sonst bleibt uns bald gar nichts mehr.