Seit fünf Jahren sucht Nicolas Schmit den Ausgang, nun hat er ihn gefunden

Minister auf Abruf

d'Lëtzebuerger Land vom 08.07.2016

Am Wochenende verstarb der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard. Das Tageblatt, das seit einiger Zeit bei der LSAP-Führung im Verdacht steht, dem Todestrieb und dem Trotzkismus zu huldigen, ließ seitenlang altgediente LSAP-Politiker zu Wort kommen, um Michel Rocard als mutigen und weitsichtigen Reformer zu feiern. Selbstverständlich ging es weniger darum, eines französischen Politikers zu gedenken, als der sich altmodisch „Linkssozialisten“ nennenden Gewerkschaftstendenz in der LSAP das Bild eines modernen Sozialdemokraten entgegenzuhalten.

Einer der Autoren, der Michel Rocard und dessen „deuxième gauche“ zugute hält, Max Weber gegenüber Karl Marx bevorzugt zu haben, und bekennt: „Nous étions tous ‚Rocadiens’“, war Arbeitsminister Nicolas Schmit. Als Parteifunktionär und Diplomat war Nicolas Schmit der Protegé eines anderen modernen Sozialdemokraten, des langjährigen Außenministers Jacques F. Poos. Bei der Rückkehr der LSAP in die Regierungsverantwortung 2004 wurde er unter dem Protest treuer Parteisoldaten gegen den „Technokraten“ zum beigeordneten Minister. Seine Aufgabe: Mit seiner Erfahrung als Botschafter der Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union in Brüssel sollte er für den damals ebenfalls neu in die Regierung gekommen Außenminister Jean Asselborn den europäischen Ratsvorsitz organisieren.

Seit 2009 ist Nicolas Schmit Arbeitsminister, was in all den Jahren hieß, mit einem Wust von staatlichen Fördermaßnahmen und einer endlosen Reform des Arbeitsamts die Arbeitslosigkeit zu verwalten und nebenbei mit der Reform des Ausschuss- und des Pan-Gesetzes sowie der Sanierung der Beschäftigungsinitiativen den OGBL als LSAP-Verbündeten bei Laune zu halten. Das machte er nach Ansicht des OGBL ganz ordentlich, auch wenn dieser es ihm nicht dankte.

Nicolas Schmits solides Selbstbewusstsein hindert ihn daran, seine Partei überschwänglich zu lieben, und sie erwidert es ihm. Er gehört zu den wenigen Ministern, denen man manchmal in einer Buchhandlung begegnen kann. So genießt er den Ruf des Einzelkämpfers, der manchmal überraschend nach links ausschert. Seinen politischen Höhepunkt erlebte er deshalb, als er das Sparpaket seines christlich-sozialen Regierungskollegen Luc Frieden öffentlich ablehnte. Dafür wurde der Rocardist auf dem Moutforter Index-Kongress mit Hilfe der heutigen Linkssozialisten als Wiedergänger Che Guevaras gefeiert. Nebenbei rettete er so die Koalition. Wenige Monate später musste er für den Frevel büßen: Weil der Minister eine Polizeibeamtin, die gegen seinen Sohn ermittelte, bedroht hatte, wurde er Anfang 2011 in einer demütigenden Parlamentssitzung von Jean-Claude Juncker zurechtgestutzt.

Der Minister, der sich sowieso auf europäischen Tagungen unter Seinesgleichen wohler fühlt als auf Bezirksversammlungen der LSAP Osten, sucht seither nach Veränderung: Er kandidierte im Herbst 2011 für den Posten des stellvertretenden Generalsekretärs der OECD, schaffte es aber nur bis in die engere Auswahl. Nach dem Rücktritt von Wirtschaftsminister Jeannot Krecké wollte er im November 2011 das Wirtschaftsressort übernehmen, mit dem Arbeitsressort angegliedert als Superminister. Aber die Partei wollte nicht und Etienne Schneider machte überlegen das Rennen. Im Jahr danach überlegte er sich, ob er nicht als Botschafter nach Paris ziehen sollte. Monatelang hielt Außenminister Jean Asselborn das Diplomatenkarussell für ihn an, umsonst. In den Koalitionsverhandlungen im Herbst 2013 wurde abgemacht, dass der Posten des Luxemburger Vertreters in der Europäischen Kommission an die LSAP gehen sollte und diese Nicolas Schmit vorschlagen würde – außer wenn Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident werden könnte. Wieder nichts.

Doch nun soll es endlich klappen. Zwölf Jahre in der Regierung seien eine ansehnliche Zeit, meint der Minister gegenüber dem Lëtzebuerger Land. Auch wenn er das Arbeitsministerium mit einer gewissen Wehmut verlasse, da dort wichtige Reformen erfolgt seien. Wenn der ehemalige DP-Wirtschaftsminister Henri Grethen im Herbst vorzeitig sein zweites sechsjähriges Mandat als Mitglied des Europäischen Rechnungshofs aufgibt, um Verwaltungsratsvorsitztender der Sparkasse zu werden, wolle er das Amt übernehmen.

Doch zuerst muss die Europäische Zentralbank noch prüfen, ob Henri Grethen die Voraussetzungen erfüllt, um der Sparkasse als strategisch wichtiger Bank im Euro-Raum vorzusitzen. Grethens Ernennung an den Europäischen Rechnungshof war seinerzeit diskutiert worden, weil er mehr Erfahrung als Diplome aufzuweisen hat. Auf jeden Fall kann die inzwischen mit zwei anderen Kandidaturen beantragte Prüfung mehrere Monate lang dauern, und Henri Grethen hat noch nicht seinen Rücktritt am Rechnungshof eingereicht. Bevor Nicolas Schmit Henri Grethens Posten auf dem Kirchberg bekleiden kann, muss er sich dann auch noch einer Anhörung vor dem Europäischen Parlament stellen.

Damit ist für den Herbst mit der vierten Regierungsumbildung zu rechnen seit dem Rücktritt von Staatssekretär André Bauler im März 2014, erst der Degradierung von Wohnungsbauministerin Maggy Nagel im März 2015 und dann ihrer Entlassung im Dezember 2015. Jedes Mal wurden Ämter gewechselt, nicht aus politischen Ursachen, sondern weil die Inhaber nicht mehr konnten oder nicht mehr wollten. Eine Koali­tion, die über eine sehr knappe Mehrheit im Parlament verfügt, schluckt sowieso besser Kröten als sich politische Meinungsverschiedenheiten zu leisten.

LSAP-Präsident Claude Haagen erklärte am Dienstag bei RTL, dass die Partei keine große Neuverteilung von Ministerressorts plane. Das heißt auch, dass das politische Gleichgewicht um das für die LSAP und ihre Beziehungen zu den Gewerkschaften wichtige Arbeitsressort nicht gestört werden soll. Die nächstliegende Lösung heißt, Sozial­minister Romain Schneider Schmits Arbeitsressort zu übertragen. Denn Sozialversicherung und Arbeit sind thematisch eng verwandte Ressorts, und Romain Schneider leitete das Arbeitsamt in Wiltz, bis er ins Parlament gewählt wurde. Als Sozialminister zeigt er sich eher als vorsichtiger Anhänger des von den Gewerkschaften noch immer geschätzten Luxemburger Modells der Sozialpartnerschaft.

Die Entwicklungshilfe und, wenn er es übers Herz bringt, den Sport soll Romain Schneider im Gegenzug an das neue Regierungsmitglied abgeben oder delegieren. Der LSAP-Präsident meinte auch, dass die Partei wieder ein Regierungsmitglied aus dem Ostbezirk bestimmen wolle. Laut den jüngsten vom Tageblatt veröffentlichten Wählerbefragungen läuft die LSAP Gefahr, ihr einziges Parlamentsmandat im Ostbezirk zu verlieren. Ein Grund mehr für sie, den Bezirk bei der Regierungsumbildung nicht zu übergehen. Bleibt die Frage des Rangs: Da die LSAP mit Francine Closener über eine Staatssekretärin verfügt, legt die Tradi­tion eigentlich nahe, die amtierende Staatsekretärin in den Ministerrang zu erheben und das neue Regierungsmitglied als Staatssekretärin anfangen zu lassen. Vielleicht braucht das Wirtschaftsministe­rium aber keine zwei Minister.

Erste Anwärterin für die Nachfolge von Nicolas Schmit ist die Zweitgewählte und Präsidentin des LSAP-Ostbezirks, Tess Burton. Die 31-jährige Gemeinderätin von Grevenmacher wurde 2013 erstmals ins Parlament gewählt. Die Betreiberin eines Geschenkeladens ist Präsidentin des lokalen Geschäftsverbands und in Unternehmerorganisationen wie den Jeunes dirigeants und den Femmes cheffes d’entreprises aktiv. Michel Rocard hätte seine Freude gehabt.

Romain Hilgert
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