Nachdem die Regierung der Opposition monatelang einen „Zukunftstisch“ verweigert hat, sollen im November mehrere Diskussionsrunden vor allem der CSV Wind aus den Segeln nehmen

Eine Art Zukunftstisch

d'Lëtzebuerger Land vom 08.07.2016

Es gab eine Zeit, da schien in Luxemburg ein „Zukunftstisch“ politisch konsensfähig zu sein. Am 19. Dezember 2000 brachten Abgeordnete von CSV, DP, LSAP, Grünen und KPL im Parlament einen gemeinsamen Entschließungsantrag ein. Die damalige CSV-DP-Regierung wurde aufgefordert, „à rassembler les forces vives de la nation autour d’une table ronde (‚Zukunftstisch’) qui devra analyser les répercussions de la croissance économique soutenue que connait le pays“.

Es war die Zeit, als die Wirtschaftsleistung stark wuchs und der Zuwachs mit 8,5 Prozent im Jahr 2000 einen Spitzenwert erreichte. Nach den Wahlen 1999 hatte CSV-Premier Jean-Claude Juncker in seiner Regierungserklärung 23 Mal das Wort „Nachhaltigkeit“ benutzt und erfand später das Panikszenario vom „700 000-Einwohnerstaat“, das nur durch Rentenverzicht abzuwenden sei. Doch es war der Rentendësch, an dem sich zeigte, dass lange Debatten an „Tischen“ eine Eigendynamik entfalten können, die der Kontrolle der Regierung entgleitet. Als der Rentendësch, an dem sämtliche Parlamentsfraktionen sowie Gewerkschaften und Unternehmerverbände teilgenommen hatten, im Juli 2001 trotz des Widerstands Jean-Claude Junckers und des Unternehmerdachverbands UEL eine knapp elfprozentige allgemeine Rentenerhöhung beschloss, war der „Zukunftstisch“ über die nachhaltige Entwicklung des Landes politisch tot. Juncker erklärte zwar erst im September 2003 nach einer Regierungsratssitzung: „Einen Zukunftstisch wird es jedenfalls nicht geben!“ Mit der LSAP aber hatte die damals größte Oppositionsfraktion gleich nach dem Rentendësch bekannt gegeben, an keinen derartigen Diskussionsrunden mehr teilzunehmen, um das Funktionieren der staatlichen Institutionen nicht zu behindern.

Da kann es durchaus überraschen, dass die aktuelle Regierung für den Herbst nun doch eine Art Zukunftstisch plant. Vor allem die CSV verlangt danach, seit sie auf ihrem Parteitag im März beschlossen hat, einen „Plan für Luxemburg“ zu schreiben und sich damit am besten schon vor dem Kammerwahlkampf 2018 als auch inhaltliche Alternative zur liberalen Regierungskoalition zu empfehlen.

Monatelang lehnte die Regierung die Tisch-Forderung, der sich auch die ADR anschloss, ab. „Das brauchen wir nicht“, sagte DP-Premier Xavier Bettel in seiner Erklärung zur Lage der Nation und wiederholte es Ende Mai in einem großen Wort-Interview. Vizepremier und Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) höhnte in seiner Eröffnungsrede zur Frühjahrsmesse, die CSV sollte mit dem Zukunftstisch „am besten bei sich selber anfangen“ und fügte an, die Studie des US-Ökonomen Jeremy Rifkin zur „digitalen Wirtschaft“ sei der Zukunftstisch. Für den grünen Landesplanungsminister François Bausch wiederum waren bisher die Gespräche mit den Gemeinden über die Plans sectoriels der „Zukunftstisch in Permanenz“.

Das entsprach der Fortsetzung des seit 2001 stets gleichen Spiels: Die Opposition verlangt einen Zukunftstisch, die Regierung lehnt das ab. Wie 2006, als die Tripartite beschlossen hatte, in einer Arbeitsgruppe Optionen für eine Pensionsreform auszuloten, und DP, Grüne und ADR vergeblich einen „Rententisch II“ einzuberufen forderten. Wie in den Jahren nach Ausbruch der Finanzkrise, als die DP einen „Ideenrucksack“ schnürte, dessen Inhalt sie an einem Zukunftstisch für „ein neues Wachstumsmodell“ auszupacken versprach, während Déi Gréng dort lieber einen „Green New Deal“ für „ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit“ abmachen wollten – denn „wer erzählt, dass es bis 2050 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von jährlich drei Prozent geben wird, verkauft die Leute für dumm“, wie der damalige grüne Fraktionssprecher François Bausch im Januar 2012 meinte.

Es sieh wie ein kühner Bruch mit dieser politischen Tradition aus, dass im November zwar kein Zukunftstisch, aber in mehreren Wochen öffentliche Zukunftsdebatten stattfinden sollen. Der Landesplanungsminister berichtete Ende Juni erst dem Tageblatt, dann dem Radio 100,7, einen Tag lang werde mit der Zivilgesellschaft und „externen Experten“ über Landesplanung hin zum 800 000-Einwohnerstaat diskutiert. Anschließend werde sich einen weiteren Tag lang die Regierung der Opposition zu dem Thema stellen. Gegenüber dem Land gibt Bausch bekannt, eine Woche später werde die Rifkin-Studie debattiert und eine weitere Woche danach diskutiere die Abgeordnetenkammer in einer Orientierungsdebatte die Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs. Dass die Öffentlichkeit jedes Mal per Live-Streaming mithören könne, verstehe sich.

Allen Beteiligten ist natürlich klar, dass es um mehr geht als symbolische Debatten um „zu viel Wachstum“, wie nach der Jahrtausendwende, während in den Krisenjahren ein Zukunftstisch wegen zu wenig Wachstum verlangt worden war. Die Regierung hat sich angreifbar gemacht, als sie Anfang des Jahres die mehr als eine halbe Milliarde Euro teure Steuerreform beschloss und im Frühjahr das Ziel, mittelfristig einen Haushaltsüberschuss von 0,5 BIP-Prozent zu erreichen, gegen 0,5 Prozent Defizit austauschte.

Tragbar soll das alles nicht zuletzt dank der Perspektiven sein, die schon im Frühjahr 2015 die Ageing Working Group bei der Generaldirektion Wirtschaft der EU-Kommission gezeichnet hatte: Bis Mitte der 2030-er Jahre seien in Luxemburg drei Prozent Wirtschaftswachstum im Jahr denkbar, und bleibe Luxemburg ein Einwanderungsland wie in den letzten Jahren, dann werde um das Jahr 2030 der 800 000-Einwohnerstaat Realität und die Sozialkassen erhielten viele neue Beitragszahler. Das alles klingt so schön, dass selbst der Finanzminister und frühere Direktor der Handelskammer vorläufig keinen rentenpolitischen Handlungsbedarf mehr erkennt und der Sozialminister und mit ihm die ganze Regierung nur noch ein klein wenig an der Pflegeversicherung sparen will und die Pflegekasse dennoch mindestens bis 2030 für „abgesichert“ hält.

Doch all das sind lediglich Szenarien. Und wenngleich sie sich nicht die Regierung ausgedacht hat – die Bevölkerungsprognosen gehen auf ein Eurostat-Modell zurück, die Wirtschaftsprognosen auf eines der EU-Kommission, und beide sind für alle Mitgliedstaaten dieselben –, müssen sie nicht so eintreten. „Zukunftsdiskussion“ heißt deshalb nicht nur, eine Dabette darüber zu führen, wie Luxemburg „organisiert“ werden soll, um weiteres Wachstum zu verkraften, sondern auch, wie dafür gesorgt werden soll, dass es tatsächlich zu weiterem Wachstum kommt.

Vor allem, weil sie sich in dieser Hinsicht schlauer zeigen will als die CSV, die öffentlichkeitswirksam so tut, als sei die Extrapolation der Daten im EU-Bericht auf 1,1 Millionen Einwohner im Jahr 2060 eine in Stein gemeißelte Aussicht, kündigt die Regierung nun schon an, im Herbst die Zukunft diskutieren zu lassen. Herrschaftswissen aus Landesplanung, Rifkin-Bericht und anderen Daten soll dafür sorgen, dass die Vorhaben und Ideen von Blau-Rot-Grün fundierter erscheinen als der Zukunftsplan, den die größte Oppostionspartei ausarbeiten will und den ihr frisch designierter Spitzenkandidat Claude Wiseler für den Herbst angekündigt hat.

Mit diesem taktischen Ansatz beerbt die liberale Koalition die CSV unter Jean-Claude Juncker. Die hatte nach dem Rentendësch erkannt, dass eine Zukunftsdebatte politisch nützlich sein kann, sofern man sie von Anfang an kontrolliert. Die Perspektive des „700 000-Einwohnerstaats“ sollte nicht mehr bedrohlich erscheinen, sondern die CSV vorgeben, den „séchere Wee“ dorthin zu kennen. Unter der Regie des damaligen Innen- und Landesplanungsministers Michel Wolter schrieb ein internationales Expertenkonsortium das Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept, das pünktlich vor den Wahlen 2004 fertig war. Und vor allem tourte Michel Wolter noch während das IVL entstand, monatelang durchs Land und warb dafür. Das ließ die CSV beinah grüner aussehen als Déi Gréng.

Eine andere kontrollierte Zukunftsdiskussion ließ die CSV-LSAP-Regierung zwei Legislaturperioden später führen, als mitten in der Krise der damalige delegierte Nachhaltigkeitsminister und CSV-Umweltpionier Marco Schank monatelang mit der Zivilgesellschaft von Mouvement écologique über die Caritas bis hin zu OGBL und Fedil in einer „Partnerschaft für Klima und Umwelt“ debattierte, aber von vornherein feststand, dass die Gespräche politisch unverbindlich bleiben sollten. Als Marco Schank die Gesprächsrunde dennoch so gut gefiel, dass er sie per Gesetz zu einer permanenten Instanz neben Tripartite und Wirtschafts- und Sozialrat machen und ihr den Premier als Präsident vorsetzen wollte, pfiff Jean-Claude Juncker ihn zurück. Die unverbindlichen Gespräche der Klima- und Umweltpartnerschaft halfen aber immerhin, einen zweiten CO2-Aktionsplan für die Tanktourismus-Nation auszuarbeiten und der Öffentlichkeit nebenbei zu erzählen, Sparpakete an den öffentlichen Finanzen seien nur ein anderer Aspekt von Klima- und Umweltschutz und materieller Wohlstand nicht alles.

Auf einen politisch ähnlich einträglichen Effekt einer kontrollierten Zukunftsdiskussion hofft die DP-LSAP-Grüne-Regierung. Es wird aber dabei nicht nur um Landesplanung gehen, sondern auch um Wirtschaft und Sozialstaat. Interessant zu beobachten wird sein, ob die CSV die von ihr heute geschürte Panik vor dem 1,1-Millionen-Einwohnerstaat aufrecht erhält und ihn durch eine kräftige Senkung der umlagefinanzierten Renten abzuwenden versprechen wird und was die Regierungskoalition dem zu entgegnen hat.

In dem Zusammenhang werden sich auch die Unternehmerverbände zu Wort melden. Aber obwohl sie nur zum Teil zufrieden mit der liberalen Koalition sind, die sie 2013 unterstützt hatten und nun verdächtigen, aus elektoralem Kalkül nach der Pfeife des OGBL zu tanzen, werden sie vermutlich keine spektakulären Forderungen erheben. 2012 war das anders. Da bat auch die UEL Jean-Claude Juncker um einen Zukunftstisch, um, wie ihr Präsident Michel Wurth sich ausdrückte, über neue „Rahmenbedingungen“ für Wirtschaftswachstum zu sprechen: eine einschneidendere Pensionsreform, eine öffentlich gegenfinanzierte Mindestlohnsenkung oder die Schaffung eines „echten Einheitsstatuts“ durch Anpassung der Gehälter des öffentlichen Dienstes an die der Privatwirtschaft. Juncker sah, dass diese Agenda den Zukunftstisch unkontrollierbar hätte machen können, und war nur zu Einzelgesprächen mit den Unternehmerverbänden bereit.

Weil heute der Rahmen der Zukunftsdebatte von vornherein eng gezogen ist, gibt es für das Patronat kurzfristig wenig zu gewinnen. Längerfristig ist das anders. Wirtschaftspolitisch hat die Regierung aus Sicht der UEL wenig falsch gemacht: Start-ups werden unterstützt, Zukunftsbranchen ausgebaut, Beihilfen fließen ungehinderter als früher, die öffentliche Forschung wurde stark in den Dienst der Innovation gestellt, Prozeduren werden vereinfacht.

Davon ausgehend, könnte die UEL die Diskussion auf einem höheren Niveau suchen: Soll die Zukunft aus „digitaler Ökonomie“, Robotisierung, Weltraumindustrie und anderen schön klingenden Branchen potenziell hoher Wertschöpfung bestehen, dann könnte sich die Frage stellen, wie man das noch stärker fördert. Dann könnten weniger die flexibilisierte Arbeitszeit und kleinere Lohnstückkosten Thema sein, sondern ob der Weg in eine noch kapitalintensivere Wirtschaft führen soll, die mit weniger Beschäftigten auskäme und damit auch mit weniger Grenzpendlern und weniger Verkehr; ob man das stärker fördert und was das für Konsequenzen für den Sozialstaat hätte. Zum Teil könnten diese Themen auch in die Wahlprogramme 2018 Einzug halten und im November ein Stück Wahlkampf vorweggenommen werden.

Peter Feist
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