Die deutsche Treuhand

Volkseigentum in Kapitalistenhand

d'Lëtzebuerger Land vom 25.09.2020

Wird Geschichte neuerdings von den Verlierern geschrieben? Unermüdlich schreiben jedenfalls verdrossene Ost-Funktionäre und West-Linke Abrechnungen zur deutschen Wiedervereinigung, beziehungsweise der „Kolonialisierung“ der DDR durch die BRD. Im Zentrum der Anklage: die Treuhand. Die Monster-Anstalt, die Ostdeutschlands „volkseigene“ Betriebe abwickelte und an einem Tag mehr Firmen privatisierte und mehr Arbeiter rauswarf als in England die ebenfalls recht unpopuläre Maggie Thatcher in ihrem ganzen Leben.

Klaus Huhn zum Beispiel war jahrzehntelang Sportchef der Parteizeitung Neues Deutschland. Nach der Wende verfasste er Bücher wie Raubzug Ost: Wie die Treuhand die DDR plünderte, Einmarsch der Verbrecher, Exkursion durch volkseigene Ruinen oder auch Die Flachzangen aus dem Westen. Zum 30. Jahrestag der „Übernahme“ konstatiert nun die aus Leipzig stammende Soziologin Yana Milev (Das Treuhand-Trauma), der „Rückbau der DDR zum Entwicklungsland“ sei eine „Kulturkatastrophe“. Den ehemaligen DDR-Diplomaten Klaus Behling (Die Treuhand) schmerzt, „wie eine Behörde ein ganzes Land abschaffte“.

Für viele ältere Ostdeutsche sei die Treuhand eine „erinnerungskulturelle Bad Bank“, bei der sie allen Groll abladen, erklärt der Bochumer Historiker Marcus Böick (Die Treuhand: Idee, Praxis, Erfahrung). Jüngere und westlichere Deutsche haben zwar meist schon einmal von der DDR gehört; das Gejammer ließ sie jedoch lange ziemlich kalt.

Seit aber im Gefolge der Finanzkrise der Glanz der Marktwirtschaft verblasst und auch im Westen die Wohlstandsillusion nur noch mit Schulden und Statistiken erhalten werden kann, stößt der Umbruch nach dem Ende des Kommunismus auf frisches Interesse. Ein weiterer Grund: Die Sperrfrist für die Akten der Treuhand, 45 Regal-Kilometer im Bundesarchiv, endete im Jahr 2016.

Zu den ersten Erforschern des Papierbergs zählt Moritz Hennicke von der Université Libre de Bruxelles („The Big Sell“, CESifo Working Paper 8566). Zusammen mit zwei anderen Gastwissenschaftlern des Münchner Ifo-Instituts hat er Daten zu 2 524 DDR-Firmen gesammelt, die von der Treuhand verwaltet wurden: die Produktivität der Unternehmen, gemessen am Umsatz pro Arbeitskraft und Arbeitsstunde, aber auch zum Beispiel Verkaufspreise, Investitions- und Job-Zusagen, die von der Treuhand ausgehandelt wurden. Nicht erfasst wurden dabei kleine Geschäfte und Restaurants, die meist von Ostdeutschen erworben wurden.

Oft wird der Vorwurf erhoben, tüchtige DDR-Firmen seien voreilig platt gemacht worden, um Konkurrenz für den Westen auszuschalten. Dagegen finden die drei Ökonomen, die Treuhand habe produktivere Unternehmen häufiger, schneller und zu besseren Preisen privatisiert als Schrottfirmen. Diese Filetstücke würden bis heute „eine wichtige Rolle im Wirtschaftssystem“ spielen. Allerdings seien sie überwiegend an westdeutsche Investoren gegangen. Mögliche Erklärungen für die „Umverteilung von Firmenbesitz von Ost nach West“ seien die größere Finanzkraft der Wessis, ihr marktwirtschaftliches Knowhow oder auch ihre bessere wirtschaftliche und politische Vernetzung. „Tendenziell“, im statistischen Durchschnitt, habe die Treuhand also trotz Wende-Chaos einen passablen Job gemacht, jedenfalls ihr „Mandat erfüllt“. – Das wird Ostdeutsche, die arbeitslos wurden, kaum trösten.

Bereits 2005 sah der Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel (Verwaltete Illusionen) in der Treuhand „erfolgreiches Scheitern“. Wirtschaftlich sei die radikale Privatisierung ein Flop und behindere einheimisches Unternehmertum. Politisch sei es jedoch „eine Meisterleistung“, den Volkszorn über den Verlust von einem Drittel aller Arbeitsplätze auf den „Sündenbock“ Treuhand abzuleiten. Der Preis für diese kurzfristige „Stabilisierung“ sei aber die dauerhafte Überforderung des Sozialstaats und die Abkopplung Ostdeutschlands von der Wirtschaftsdynamik des Westens: „Mezzogiorno-Phänomen“ mit „nachhaltigem Krisenpotential“.

Wirtschaftlich krebst Ostdeutschland heute bei 70 Prozent des Westniveaus herum. Im Nordosten, der bereits zur Kaiserzeit hinterherhinkte, scheitern nun schon seit einem Jahrhundert Wirtschaftsreformen und Aufholprogramme der unterschiedlichsten Regime. Das Problem der ungleichen Entwicklung könnte aber bald aus der Gegenrichtung gelöst werden: Mit der absehbaren Pleite, pardon: „Transformation“ der Autoindustrie droht auch Westdeutschland flächendeckende Deindustrialisierung. Dafür braucht es keine Privatisierungsanstalt; das erledigt der Markt.

Wie pleite war die DDR wirklich?

Kommunistische Propaganda, lange auch im Westen geglaubt, wähnte die DDR unter den Top-Ten der Industrienationen – besser als viele kapitalistische Länder. Eine Überraschung war daher der 30. Oktober 1989: Der Chef-Planer, der Außenhandelsminister, ein Direktor der Staatsbank und andere Insider berichteten dem SED-Politbüro, die DDR sei im Westen mit 26 Milliarden US-Dollar verschuldet und stehe unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Da von der Sowjetunion keine Hilfen zu erwarten und Auflagen des Internationalen Währungsfonds unerträglich seien, gebe es bloß zwei Optionen: Drastische Lohnsenkungen. Oder Westdeutschland um weitere Kredite anpumpen, vielleicht für das Versprechen einer Mauer-Öffnung.

Später ruderten die Wirtschaftsfunktionäre zurück: In Wirklichkeit sei die DDR nur halb so verschuldet; sie hätten lediglich den neuen Staatschef Egon Krenz erschrecken und zu Reformen motivieren wollen. Das glaubte dann aber niemand mehr.

Falls die maroden Kombinate einen Wert hatten, wurde er durch die Währungsunion mit Westdeutschland ausgelöscht: Unter dem Eindruck von Massendemonstrationen wurden zum 1. Juli 1990 die Ost-Löhne im Verhältnis von 1:1 auf West-Mark umgestellt – eine Aufwertung von rund 400 Prozent. Über Nacht waren DDR-Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig, ihre Stamm-Märkte in Osteuropa verloren.

Bei Kriegsende 1945 war die Wirtschaftsleistung von West- und Ostdeutschland ungefähr gleich gewesen. Reparationen an die Sowjetunion und die Flucht von drei Millionen Einwohnern drückten die DDR auf rund 30 Prozent des Westniveaus. Bis 1989 erreichte die DDR etwa 55 % - im Vergleich mit Angola oder Kuba gar nicht so schlecht. Die DDR-Staatspartei SED hatte allerdings wiederholt versprochen, dank überlegener Planung die kapitalistische BRD zu „überholen“.

Treuhand: die größte Holding der Welt

Nach dem Vorbild der deutschen Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg hatte die Sowjetunion eine Planwirtschaft aufgebaut. Dieses Modell wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ins sowjetisch besetzte Ostdeutschland exportiert: Verstaatlichung der Banken und der meisten Firmen, Vorrang für Schwer- und Rüstungsindustrie, Wirtschaftslenkung durch eine zentrale Planungsbürokratie.

Damit Staatsbetriebe beim erneuten Übergang zur Marktwirtschaft nicht verschleudert und Arbeitsplätze erhalten würden, gründete die letzte DDR-Regierung am 1. März 1990 eine „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“, kurz „die Treuhand“. Nach der Vereinigung mit Westdeutschland wurde daraus eine zentrale Bundesbehörde, die aber aus dem Bundeshaushalt ausgegliedert war, nicht der Kontrolle des Parlaments unterstand und wie ein privates Unternehmen an den Kapitalmärkten agieren konnte. Ihr Auftrag: „schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen“.

Die Treuhand krempelte die Wirtschaft Ostdeutschlands um. Sie war anfangs zuständig für vier Millionen Beschäftigte in rund 13 000 Betrieben. Davon wurden 60 Prozent an private Investoren verkauft, 30 Prozent stillgelegt, der Rest an ehemalige Besitzer oder Kommunen übergeben. Außerdem verkaufte oder verpachtete die Treuhand mehr als ein Drittel der DDR-Fläche. Die Mega-Anstalt hatte bis zu 4 000 Mitarbeiter, unter westdeutscher Leitung vor allem Personal der ehemaligen DDR-Wirtschaftsverwaltung.

Nach der Währungsunion übernahmen Investoren die meist verrotteten DDR-Firmen oft nur mit erheblichen Subventionen. Die Treuhand musste zum Beispiel Altschulden und die Sanierung von Umweltschäden übernehmen. Am 31. Dezember 1994 wurde sie mit großem Medien-Tamtam aufgelöst, das heißt in die „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ (BvS) überführt. Der Treuhand-Verlust von 256 Milliarden D-Mark ging zu Lasten des Bundeshaushalts. Die Nachfolgebehörde BvS wird seit 2014 „abgewickelt“. Verschiedene Tochterorganisationen, etwa für Vertragsmanagement, Immobilienverwertung oder Altlasten-Beseitigung, werden sich noch Jahrzehnte am Bankrott der DDR abarbeiten.

Martin Ebner
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