Zu Inna Ganschows 100 Jahre Russen in Luxemburg

Die „Russen“ kommen

Russische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg bei der Mine Blechwies in Esch/Alzette
Foto: Fondation Lydie Schmit / C2DH
d'Lëtzebuerger Land vom 11.09.2020

Dass die luxemburgische und die russische Wirtschaft miteinander verknüpft sind, weiß man spätestens seitdem zwei ehemalige Wirtschaftsminister in die Aufsichtsräte russischer Firmen aufgenommen wurden. Die rezente Publikation von Inna Ganschow 100 Jahre Russen in Luxemburg zeigt, dass das Großherzogtum schon länger etwas mit Russland zu tun hat.

Das Buch wurde von der Fondation Lydie Schmit herausgegeben, die sich unter der Präsidentschaft des ehemaligen LSAP-Abgeordneten Ben Fayot zu einer innovativen Plattform der zeitgenössischen Geschichtsschreibung entwickelt hat. Nach Renée Wageners politischer Biografie von Lydie Schmit und Marc Birchens Pionierarbeit über die Schülerzeitungen legt die Stiftung hier einen Band vor, der sich von den politisch eher linskorientierten Themen der beiden vorhergehenden Veröffentlichungen unterscheidet. Die kritische Darstellung der Sowjetunion sowie die deterministischen Aussagen über die russische(n) und luxemburgische(n) Identitäten reihen das Buch eher in eine konservative Geschichtsschreibung ein.

Die promovierte Historikerin und langjährige Journalistin Inna Ganschow legt – nach einem zweijährigen von der Fondation Lydie Schmit finanzierten Forschungsprojekt am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) – eine Synthese über ein wenig erforschtes Kapitel der Migrationsgeschichte vor, die sehr vielseitig ist: Arbeiter aus dem russischen Reich in der Stahlindustrie vor dem Ersten Weltkrieg; Ansiedlung größerer Gruppen ehemaliger Soldaten aus der „weißen“ zaristischen Armee nach 1920; sowjetische Zwangsarbeiter/innen in Luxemburg während des Zweiten Weltkriegs sowie die Präsenz von Russ/innen in Luxemburg heute.

Bedauerlicherweise kommt die Zeit des Kalten Krieges etwas kurz und die kulturellen Verträge, die Luxemburg mit der Sowjetunion ab 1969 schloss, werden nicht erwähnt. Der letzte Teil der Arbeit wirkt – verständlicherweise – mehr journalistisch als historisch geprägt und legt den Fokus auf die russisch-orthodoxen Kirchengemeinde sowie auf russische Frauen, die kulturell das „Russentum“ in Luxemburg pflegen.

Die Stärke des Buches liegt ohne Zweifel in den historischen Kapiteln, besonders in der Aufarbeitung der Geschichte der Weißgardisten in Luxemburg. Diese ehemaligen Offiziere und Soldaten der zaristischen Armee, die bis 1921 gegen die Bolschewisten kämpften, verteilten sich nach ihrer Niederlage über die ganze Welt. Etwa 300 fanden den Weg nach Luxemburg und ließen sich in zwei Kolonien nieder: In Wiltz, wo sie für die Lederfabrik Ideal arbeiteten, und in Mertert bei der Fliesenfabrik Cerabati.

Die erste Generation dieser Immigranten glaubte an eine Rückkehr nach Russland und blieb stark unter sich. Erst die dritte Generation ging in der luxemburgischen Gesellschaft auf. Ganschow analysiert eine Vielzahl historischer Quellen, die zum Teil aus russischen Archiven stammen. Diese Archivalien werden durch Interviews mit Nachfahren ergänzt.

Es ist dieses ständige Hin und Her zwischen historischen Quellen und Oral history, das sowohl die größte Stärke als auch die größte Schwäche des Buches ausmacht. Stärke, weil die mündlichen Quellen den Einzelschicksalen Leben einhauchen und die Biografien in ihrer Komplexität darstellen. Schwäche, weil die Darstellung manchmal ins Anekdotenhafte abschweift, was zum Teil auch an der schwammigen Struktur des Buches liegt, in dem die Titel der Kapitel oft nicht deren Inhalt widerspiegeln.

Die fehlende Theoretisierung des Untersuchungsobjektes stellt den Leser vor einige Schwierigkeiten. Manche Begriffe werden nicht erklärt. So wird die Definition, was denn ein „Russe“ ist, nie richtig ausgesprochen: Ist es jemand, der russisch spricht? Jemand, der aus einem Gebiet des ehemaligen Zarenreiches oder der Sowjetunion stammt – wohlwissend, dass die Grenzen dieser „Russländer“ sich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrmals verändert haben?

Dass Inna Ganschow hier eine klare Definition scheut, hat jedoch auch Vorteile: Es erlaubt, da der Untersuchungskorpus zahlenmäßig gering ist, gemeinsame Schicksale über die Grenzen einer nationalen Zugehörigkeit aufzuzeichnen. So werden Personen die sich selber zum Beispiel „Georgier“ oder als „Polen“ bezeichneten, zum Teil mit einbezogen.

Diese Flexibilität des Begriffes des Russen wird jedoch manchmal zugunsten sehr deterministischer Bezeichnungen aufgegeben. So wird immer wieder der Begriff der „ethnischen Russen“ gebraucht, als gäbe es „richtige“ und „falsche“ Russen. Einer der Leitfäden der Arbeit scheint der „Widerstand gegenüber der Kultur des aufnehmenden Landes“ (S. 308) zu sein, und so werden die kulturellen Praktiken der russischstämmigen Familien in Luxemburg in den Vordergrund gestellt, ohne unbedingt zu zeigen wie diese sich im Lauf der Zeit verändert haben. Dieser kulturellen Abkapselung der Russen steht jedoch die soziale Integration über mehrere Generationen gegenüber: Ganschow beschreibt die Beziehungen einiger Familien zu den Luxemburgern in einer recht intimen Art und Weise. Besonders störend wirkt jedoch die Bezeichnung „Luxemburger Russen“, die Ganschow exklusiv für die ehemaligen Weißgardisten benutzt. Liegt das daran, dass die Autorin eine gewisse Bewunderung für diese Leute hegt? Der Leser muss darin eine Bewertung sehen, dass diese Russen „luxemburgischer“ seien als die anderen – was auch immer das heißen soll.

Ganschow zeigt, dass ehemalige Weißgardisten wenig gemeinsam mit den Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg hatten, wo Erstere öfters als Dolmetscher für die Naziverwaltungen dienten. Die Nachfahren dieser beiden Gruppen pflegten auch keinen Kontakt zu den russischen Mitarbeitern der sowjetischen Botschaft und mit den russischen Expats heute. In der Tat ist das, was Ganschow als „Atomisierung“ der russischen Gesellschaften in Luxemburg bezeichnet, flagrant: Politische Überzeugungen, Erinnerungen an unterschiedliche politische und soziale Gefüge im ehemaligen zaristischen Russland, der Sowjetunion oder dem heutigen Russland; unterschiedliche Motive für die Migration und so weiter – all das unterscheidet diese Russen voneinander. Es gibt in diesem Sinne keine russische Gemeinschaft in Luxemburg, sondern mehrere so-
ziale Gruppen, die sich als „russisch“ sehen.

Die Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte, die den Zusammenhang zwischen Luxemburgern in Russland und Russen in Luxemburg aufzeigen, sind sehr aufschlussreich. Die Ansiedlung der Weißgardisten in Luxemburg ist den persönlichen Kontakten des luxemburgischen Ingenieurs Raymond de Muyser zu verdanken, der vor der bolschewistischen Revolution im Zarenreich arbeitete. Die gezwungene Rückführung der Zwangsarbeiter nach 1944 hing mit der Rückführung der luxemburgischen Kriegsgefangenen in Tambow zusammen – was vielleicht erklärt, weshalb luxemburgische Gendarmen an den zum Teil mit Gewalt durchgeführten, regelrechten Entführungen von Sowjetbürgern aus luxemburgischen Familien teilnahmen.

Ganschow trägt so zur Kritik der traditionellen Geschichtsschreibung aus dieser Zeit bei. Die Erinnerung, dass sechs von zehn der in Hinzert Inhaftierten Bürger der Sowjetunion waren, zeigt, dass Teile der seit Jahrzehnten intensiv erforschten Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Luxemburg noch blinde Flecken über transnationale Verflechtungen enthalten. Die Rolle der sowjetischen Kriegsgefangenen in Luxemburg wurde in der kollektiven Erinnerung verdrängt.

Trotz einiger Schwächen liefert Inna Ganschow einen guten Überblick zur russischen Präsenz in Luxemburg. Großzügig illustriert, ergänzt die Publikation die schon reiche Geschichte der Migrationsbewegungen. Auf die Frage, warum ehemalige luxemburgische Wirtschaftsminister gute Verbindungen zu russischen Betrieben haben, gibt das Buch jedoch keine Antwort – tagespolitisches Geschehen erklärt sich eben nicht immer aus der Geschichte.

Inna Ganschow, 100 Jahre Russen in Luxemburg. Geschichte einer atomisierten Diaspora. Fondation Lydie-Schmit – Luxembourg Center for Contemporary and Digital History. Luxemburg, 2020, 382 Seiten, ISBN 978-2-919908-17-2

Régis Moes
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