Die kleine Zeitzeugin

Kindheit in der Hölle

d'Lëtzebuerger Land vom 20.05.2022

Das schönste Kleid, das ich je trug, mein „Engelchersrack“. Eher ein Hauch als ein Kleid, weißgetüpfelt, wie durch einen Flor oder einen Schleier schaute man durch dieses Himmelblau, unter den Fingern knisterte es bei Berührung. Flügelchen wuchsen aus den Schulterblättern, und wie ich mit meinen Schulkameradinnen in den frischgewaschenen Maienmorgen hinein ging, einging, vorbei an Vorgärten voller Flieder und Pfingstrosen, in spiegelglänzenden Lackschuhen und schneeglöckchenweißen Socken, war Lieblichkeit pur. Seligkeit.

Die Stadt dann, unterwegs zur Trösterin der Betrübten auf Blütenteppichen, inmitten blumenstrotzender Altäre, Weihrauchwabern, Gesängen, betörendem Gebetsgemurmel. Ein Rausch. Die Männer mit den Zauberhüten, die Großmütter auf ihren mitgebrachten Klappstühlen am Straßenrand. Ein Himmel wurde durch die Straßen getragen.

Wenig später waren wir keine Engel mehr, wir trugen Brautkleider. Die Vereinigung war vollstreckt worden, Gott zerging uns auf der Zunge, ich fiel in Ohnmacht. In unsern Kommunionskleidern nahmen wir jetzt an der Schlussprozession teil, es war das Ende der Seligkeit.

Ab jetzt standen wir immer mit einem Fuß in der Hölle. Schuld und Sühne verfolgten uns, Gott war überall, wir konnten ihm nicht entkommen. Dass dieser Gott verdammt lästig war, so ein Gedanke wäre die höchste Gotteslästerung gewesen. Nicht nur die Taten, auch die Gedanken musste man im Zaum halten. Wenn einer Böses denkt, ist das genauso schlimm, wie wenn einer Böses tut. Sagte der Kaplan in der ersten Grundschulklasse, derselbe, der mir eine Schallende verpasste, die Umrisse seiner Hand glühten auf meiner Wange. Ab da dachte ich viel, viel Böses. Und kam mir immer böser vor. Abgrundtief bös. Ich konnte gar nicht anders, als Böses denken. Wäre der oder die gut tot! schoss es mir durch den Sinn, einfach so, und gerade bei denen, die ich zu lieben hatte. Gerade bei denen, die mich liebes Mädchen nannten, so ein braves Kind. Zwangsstörung, würde man das heute nennen.

Wenn die wüssten, mit wem sie es zu tun hatten! Mit dem Teufel in Person, in der Verkörperung eines Schulmädchens im Faltenrock, mit Brille, über Schulhefte gebeugt, mit einer Eins im Betragen. In der harmlosesten aller Tarnungen saß ich am Abendbrottisch. Wenn die wüssten, dass sie es mit einer Mörderin zu tun hatten! Sogar einer Massenmörderin!

Wenn der Pfarrer das Sündenregister abfragte, im schwarzen Kasten, hinter seinem Gitter und seinem Vorhang, in einer Wolke von Lakritze, bezichtigte ich mich der Unkeuschheit. Diese bestand ja z.B. darin, dass man anschaute, was man nicht schauen durfte. Meine Mutter hatte mich ermahnt, Menschen mit Behinderung nicht anzustarren, hatte ich dies trotzdem getan, bekannte ich mich als unkeusch. Das kam mir vergleichsweise harmlos vor. Allein oder mit andern? fragte der Pfarrer. Wie sollte ich aber die Morde beichten? Ich sagte, dass ich sehr schlimme Sachen denken würde, seltsamerweise hakte der Pfarrer nicht nach. Ich wurde zu einer Serie von Gegrüßezeistumaria verdonnert, einer gnädigen Strafe. Aber vielleicht war das nur halb gebeichtet, vielleicht galt es nicht, oder war gar eine Unterschlagung? Ein Betrug? An Gott? Vor Gott?

Vielleicht aber war meine Seele jetzt wirklich weiß, himmlisch weiß, ohne einen einzigen schwarzen Fleck? Nur kurz war das Aufatmen, kaum hatte ich die Kirche verlassen waren die Gedanken wieder da, es war hoffnungslos, ich konnte niemand das erzählen. Meiner Mutter nicht, der ich alles erzählte, alles erzählen durfte oder auch sollte, wie ich dachte. Dass ihre brave Tochter eine Mörderin war, sie würde vor mir zurückschaudern. Meinen Freundinnen nicht, wir erfanden Geheimnisse à la Enid Blyton, sie lebten in einer anderen Welt, auf einer hellen Oberfläche. Nicht in der Hölle. Sie würden mich verstoßen.

Die sg. Boomer*innen sind, Rette-sich-wer-kann!, längst aus der Kirche desertiert, deren Rolle ist nur noch marginal. Sie kann nicht mehr umhin, sich dem sexuellen Missbrauch in den Reihen zu stellen. Was sie über Generationen in den Kinderseelen angerichtet hat, Gottesmissbrauch und Kindesmissbrauch zugleich, auch dem müsste die Kirche sich stellen.

Michèle Thoma
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