Die kleine Zeitzeugin

Russenkunst

d'Lëtzebuerger Land vom 06.05.2022

Der Künstler beziehe keinen Cent Honorar, sogar den Transport der Bilder habe er selber bezahlt, versichert der Direktor des MNHA (Musée national d’histoire et d’art). Pflichtschuldigst. Was hat sich der Künstler zuschulden kommen lassen, dass sich nicht nur derart entschuldigt wird, dass er auch noch eine Art Bußgeld dafür bezahlt um überhaupt auszustellen?

Seine Nationalität etwa? Wie krank das auch im dritten Jahrtausend in Europa klingt, Entwarnung diesbezüglich. Der Künstler hat seit 2016 nicht mehr jene, derzeit dem Reich des absolut Bösen zugeordnete, Staatsbürgerschaft. Sondern eine weltweit respektierte und als eher harmlos konnotierte, die deutsche. Seit Jahrzehnten lebt er außerhalb Russlands. Sein international anerkanntes und immer wieder in Luxemburg ausgestelltes Werk lässt keinerlei Schlüsse auf Sympathien mit dem russischen Regime zu. Vielmehr das Gegenteil.

Dennoch beklagt LUkraine asbl in einem offenen Brief den Tatbestand einer Ausstellung von Kantor gerade jetzt. Empfindet sie als beleidigend und lehnt die von Maxim Kantor angekündigte Aufteilung eventueller Erlöse an sowohl ukrainische als auch russische Familien, die er gleichermaßen als Opfer sieht, vehement ab. Diese Gleichsetzung von Opfern und Tätern nennt LUkraine asbl „abscheulich“.

Ist das eine unzulässige Einmischung in europäische Kulturpolitik, die ja russische Künstler*innen derzeit sowieso scharf unter die Lupe nimmt? In der Venedig Biennale bleibt der russische Pavillon geschlossen, Anna Netrebko z.B. hat sich zu spät von Putin abgegrenzt um Schaden von ihrer Karriere abzuwenden. Reicht es denn nicht vollkommen, offiziell Russland vertretenden Künstler*innen abzusagen? Reicht wirklich allein schon der Geburtsort, der Geburtsunort um Persona non Grata zu sein? Oder Aussagen, die ein Künstler*in irgendwann im Laufe eines eventuell langen Lebens von sich gegeben hat?

Kantor, der Putin mit Hitler verglich, ihn Oberst der Oligarchen nannte, wird von der Kyiv Post rezenter überheblicher Statements gegenüber der Ukraine bezichtigt. Auf Facebook verglich er die Krim mit einer Prostituierten. Dass die Ausstellung Rape of Europe heißt, in einer Zeit in der unzählige Frauen vergewaltigt werden, sei ein weiterer Affront, neben der Gleichstellung von russischen und ukrainischen Opfern. Dass Letzteren ein Teil des potenziellen Ausstellungserlöses zugeteilt werde sieht Kyiv Post als moralische Vergewaltigung. Kantor, der auf der In-Welle des Pro-Ukrainismus surfe, wird Opportunismus vorgeworfen, dem luxemburgischen Museum Heuchelei.

Eigentlich hätte dieser Text ein feuriges Pamphlet werden sollen. Gegen Künster*innen-Bashing aufgrund von hm, seltsam, Nationalität, oder, hm, Religion, genau so seltsam, Geschlecht oder irgendeiner Identität die gerade als die falsche angesehen wird. Er wollte sich vehement dagegen verwehren, dass Kunstschaffende Bekenntnis ablegen müssen. Dass sie auf der richtigen Seite stehen, immer schon, dass Frauen mit Kopftuch öffentlich dem Islamismus abschwören müssen, Schriftstellerinnen ihre Transphilie bekunden. War nicht mal Grenzgangsterinnentum das Wahrzeichen, Individualismus, störrisches seinen Weg gehen, seinen Umweg, seinen Holzweg?

Und wo sind die Grenzen der Grenzenlosigkeit? Das brennende Hunger des späteren Hitler-Fans Knut Hamsun war eins der prägenden Bücher meiner Jugend. Ist ein russischer Top-Tenor, der auch jetzt noch zu Putin steht, in einem europäischen Opernhaus noch vertretbar? Oder wenigstens jemand, der geschickt oder auch nur apolitisch nicht Stellung bezieht?

Kantor liebt niemanden so wie seinen verstorbenen Vater. Psychologisch verständlich, dass das Vaterland seine schweren Schatten bis in manche rezente Posts wirft. Aber darf ein Künstler das, gerade jetzt? Ist die Wucht des Werkes über alles erhaben? Wuchtig ist auch der oft holzschnittartig altväterische Roman Rotes Licht, dessen Umfang und patriarchal brachialer Macho-Stil eine erschlagen können. Welche Stellung ergreifen? Egal, zumindest im Feuilleton ist der Stellungskrieg ein wichtiger. Das ist Demokratie, Theorie und Praxis.

Michèle Thoma
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