Eigentlich geht sie Dienstagmorgens mit Freundinnen walken, aber heute fiel der Morgensport aus. d’Land ist zu Besuch in der Gemeinde Wahl. „Politisches Engagement geht vor“, konzediert die Bürgermeisterin Christiane Thommes-Bach. Sie sitzt an einem Rundtisch im Rathaus. Gegenüber von ihr steht ein großer Flachbildschirm – hier werden Budgets, Baupläne und Tagesordnungen für Gemeinderäte sichtbar. Daneben stehen zwei Auszeichnungen: „Vëlo-aktiivsten Gemengerot (2021)“ sowie „Meeschten Vëlo’s-Kilometer pro Awunner (2022)“. Ein eigenes Büro habe sie nicht: „Ich arbeite zu Hause in Grevels oder am Tablet im Sitzungssaal.“
Kurz nach den Wahlen 2017 erkrankte Bürgermeister Marco Assa schwer an Krebs, er trat zurück und Christiane Thommes-Bach übernahm das Amt. Sie erinnert sich: Die erste Gemeinderatssitzung war überwältigend. Damals mahnte das Informatiksyndikat Sigi vor versammelter Tagespresse, die Gemeinde Wahl stehe vor einem finanziellen Kollaps. Seit der Gemeindefinanzreform ist die staatliche Zuwendung vor allem an die Bevölkerungszahl gekoppelt und weniger an die Fläche. Und in punkto Besiedlungsdichte ist Wahl mit 1 089 Einwohnern (Stand 2023) eine der kleinsten Gemeinden. Mit dem Bau des geplanten Schul-Campus drohte dem Ort im Kanton Redingen eine Pro-Kopf-Verschuldung von 12 000 Euro. „Da stand ich unter Druck.“ Seitdem überwache sie das Budget ganz genau.
Das politische Engagement bahnte sich bei der amtierenden Bürgermeisterin allmählich aber sicher an. Zunächst war sie in der Kultur- und Sportkommission der Gemeinde Wahl engagiert, auf nationaler Ebene ist sie Mitglied des Mouvement ecologique. Über ihren Mann, der Einnehmer der Gemeinde Wahl war, war sie immer ungefähr über das Geschehen im Gemeindehaus im Bilde. Als sie kurz vor der Pensionierung stand, dachte sie, „setz dech op, elo ass ee gudden Zäitpunkt“. Sie wurde Zweitgewählte. Und steht nun an der Spitze von sieben Dörfern: Wahl, Grevels, Brattert, Buschrodt, Heispelt, Kuborn, Brattert und Rindschleiden.
Das Profil von Christiane Thommes-Bach ist nicht untypisch. Im Schnitt sind Gemeinderats-Kandidat/innen um die 48 Jahre alt. Sowohl Frauen als auch Männer melden sich häufig einige Jahre vor der Pensionierung für Kommunalämter. Es scheint Personen in die Politik zu ziehen, deren Kinder – falls vorhanden – selbständig sind, die beruflich gefestigt und auf der Suche nach einer neuen Herausforderung sind. Soziologischen Studien zufolge betreten Kandiat/innen dabei kein Neuland – meist waren Kommunalpolitiker zuvor bereits zivilgesellschaftlich aktiv. Im Hinblick auf einen Aspekt weicht das Profil der Wahler Bürgermeisterin jedoch ab: Nur 16 der 102 Bürgermeisterposten werden von Frauen besetzt. Auch in Schöffenräten sind Frauen unterrepräsentiert, man trifft hier auf 37 Frauen und 189 Männer. Darüber hinaus ist ein großes regionales Gefälle zwischen Zentrum und Norden zu verzeichnen. Immerhin fast 40 Prozent der Kandidaten sind im urbanisierten Raum Frauen, im Ösling nur 25. Das Conseil national des Femmes (CNFL) hat berechnet, dass lediglich in vier Gemeinden mehr Frauen als Männer im Gemeinderat miteintscheiden: In Grevenmacher (64 Prozent) sowie in Beaufort, Colmar-Berg und Manternach (55 Prozent).
Warum wenige Frauen sich an Kommunalpolitik herantrauen, hat Helga Lukoschat von der Europäischen Frauenakademie in Berlin in einer Befragung von über 1 000 Kommunalpolitikerinnen systematisiert. Vor allem kulturelle Geschlechterbilder und politische Strukturen spielen ihr zufolge eine Rolle: Männer in politischen Ämtern sind es gewohnt, sich an anderen Männern zu orientieren, wenn es darum geht, Listenplätze und Mandate zu vergeben. Nicht immer werden Frauen in den Sitzungen ernstgenommen und müssen sich häufiger beweisen. Für junge Menschen, die an Kommunalpolitik interessiert sind, und insbesondere Frauen, wirke das Zeitbudget zudem abschreckend: Kommunalpolitisches Engagement verträgt sich nicht mit dem Einstieg ins Berufsleben und mit Sorgearbeit, die größtenteils von Frauen erledigt wird.
Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) nahm die Zahlen Anfang Januar zur Kenntnis und kommentierte während einer Pressekonferenz: „Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Den Frauenanteil in Gemeinderäten erhöhen zu wollen, ist deshalb keine Frage von Ideologie, sondern von Repräsentation.“ Um mehr Frauen für Kommunalpolitik zu begeistern, starte sie deshalb die Kampagne „Egalitéit liewen/Vivons l’égalité“. Eine Achse der Kampagne beruht auf Videobeiträgen von Kommunalpolitikerinnen, die andere Frauen motivieren solle, in die Politik einzusteigen. DP-Schöffin Simone Beissel erzählt in ihrem Beitrag: „Ich war lange im Ausland und als ich zurückkam, habe ich festgestellt, dass in Luxemburg-Stadt vieles zu tun sei. Mit Lydie Polfer bin ich schon ewig befreundet. Und sie hat mich gefragt, mitanzupacken.“ Darüber hinaus behauptet sie: „Ee Merci kritt der ganz seelen.“ Die Videos befinden sich etwas versteckt auf dem Facebook-Kanal „Egalitéit Liewen“, ob sie viele erreichen, darf bezweifelt werden.
Im südlichen Nachbarland Frankreich geht man seit 20 Jahren offensiver vor. Auf Wahllisten werden alternierend Frauen und Männer aufgeführt. Der Anteil an Frauen liegt in Gemeinderäten derweil bei 42 Prozent. 19 Prozent der Kommunen werden von Frauen regiert. Belgien ist vor den letzen Kommunalwahlen ebenfalls zu paritätischen „Reißverschluss“-Wahllisten übergegangen: Der Bürgermeisterinnen-Anteil rückte auf 18 Prozent hoch. In Deutschland dümpelt er bei neun Prozent.
Wie die erfahrene Simone Beissel meint auch die Wahler Bürgermeisterin: „Bürger melden sich eher, um negative Kritik zu üben“. Einwohner rufen spontan zu Hause an, Bauern fahren mit dem Traktor an den Straßenrand, wenn sie die Bürgermeisterin erblicken – Politik findet im Vorgarten, am Schultor, beim Buergbrennen und dem Vereinsfest statt. „Et ass alles vill méi no, an dofir ass een och heiansdo méi ugräifbar“. Aber sie habe einen breiten Rücken, meistens könne sie viel wegstecken. „Ich war 35 Jahre lang OP-Krankenschwester in Ettelbrück. Im OP muss man konzentriert und auf der Hut sein. Das war eine gute Lehre.“
Top-Aufregerthema waren in den vergangenen Monaten 30er-Zonen und Feldwege, die nur noch für Anrainer befahrbar sein sollen. Es zirkulierte daraufhin eine Petition und eine turbulente Bürgerversammlung fand statt. Das Schild „eng klimafrëndlech Gemeng“ wurde von einem Einwohner zu „keng klimafrëndlech Gemeng“ umbeschriftet. Die Aggressivität der Bewohner/innen sei mit den Händen zu greifen gewesen. Mit dem Gemeinderat musste sie einen Konsens finden: „Wir müssen auf die Wünsche der Gemeindeeinwohner achten“ und entschied sich gegen eine Sperrung der Feldwege für den allgemeinen Verkehr. Andere mögen sagen: „Ah et ass ëmgefall.“
Gerade auf dem Lande sei es herausfordernd, wenn Kommunalpolitik das persönliche Sozialgefüge in einen anderen Fokus verschiebt. Die Sozialwissenschaftlerin Mina Mittertrainer hat an der Hochschule Landshut über Befragungen festgestellt: Wenn sich in einer kleinen Dorfgemeinschaft politische Themen mit persönlichen mischen, kann dies das Zusammenleben belasten. Vor allem wollen Frauen dieses Risiko vermeiden. Nicht selten wirke deshalb Kommunalpolitik auf Zugezogene attraktiv: Sie können, ohne familiäre Vorgeschichte und Verstrickungen beachten zu müssen, eben gerade über Kommunalpolitik am Sozialleben beteiligen.
Seit ein paar Monaten ist Christiane Thommes-Bach zudem Mitglied der grünen Partei. Das ermöglicht es ihr, sich fürs Parlament aufzustellen und neue politische Kenntnisse zu sammeln. Birgt aber auch Spannungspotenzial: „Im ländlichen Raum kommt die grüne Parteikarte nicht gut an, weil ein Teil der Bevölkerung befürchtet, man stehe für Restriktionen“, bemerkt sie. Verschiedene Parteien hätten sie kontaktiert, um ihren Frauenanteil zu erhöhen. Zunächst war sie hin und hergerissen zwischen zwei Parteien. Gestand sich aber schließlich, dass sie sich stärker mit grüner Politik identifiziere. Camille Gira aus Beckerich, erster grüner Bürgermeister des Landes, sei eines ihrer Vorbilder. Allerdings solle man realistisch bleiben: Als Majorzgemeinde versuchte der Gemeinderat gemeinsame Ziele zu verfolgen. Parteipolitik spiele dabei kaum eine Rolle.
Ein Anliegen dieser Amtsperiode war beispielsweise, den Schul-Campus Nei Brasilien fertigzustellen. Die Bezeichnung Nei Brasilien geht auf Luxemburger zurück, die 1828 nach Brasilien auswandern wollten. Als sie am Hafen von Bremen ankamen, wurde ihnen mitgeteilt, dass sie den Atlantik nicht überqueren können: Der Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, hatte verkündet, er nehme keine Europäer mehr auf. Weil die zur Auswanderung Aufgebrochenen zuvor alles aufgegeben hatten und völlig verarmt nach Luxemburg zurückkehrten, wies die Regierung ihnen unwirtliches Land in den Ardennen zu – das heutige Grevels. In der neuen Schule finden sich täglich 130 Kinder ein, bis zu 200 kann sie allerdings aufnehmen. Ein vorauschauender Schritt: Die Gemeinde verbucht nämlich ein Wachstum von zwei Prozent. Das Medianeinkommen, das der Statec 2017 berechnete, liegt mit knapp über 3 400 Euro im mittleren Feld. Zumeist seien es Personen aus der Umgebung, die sich derzeit niederlassen. Personen, die nicht mehr den unfruchtbaren Schieferboden beackern müssen, sondern die Landschaft genießen können: Vom Campus Nei Brasilien aus sieht man in der Ferne die Aareler Knippchen, die Skyline des Kirchberg und die Kühltürme von Cattenom. Als im Winter 2020/21, mitten im Lockdown, Schnee auf den Ardenner Höhen lag, rückte das halbe Land mit Schlitten und Glühwein in Grevels an. „Soviel Verkehrschoas und Müll hatten wir bis dahin noch nicht erlebt“, erinnert sich die Bürgermeisterin.
Die Wahlen am 11. Juni werden in Wahl und Grosbous besonders aufregend. Denn: Die Räte und Gemeindeeinwohner haben bereits gewählt – und zwar mit einer deutlichen Mehrheit für eine Gemeindefusion. Nun wird es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem DP-Mitglied und jetzigen Bürgermeister von Grosbous, Paul Engel, und Christiane Thommes-Bach kommen. Der 45-jährige Creos-Angestellte und die pensionierte Krankenpflegerin schnitten bei den letzten Wahlen ähnlich ab: Ersterer erhielt 392 von 660 Stimmen, Letztere 350 vun 633. Mehr noch: Freizeit und Politik vermischen sich zwischen ihnen schon länger. Beide sind Mitglied der Theatergruppe De Schankemännchen, in der der Sohn der Wahler Bürgermeisterin, Max Thommes, seine ersten Theatererfahrungen gesammelt hat. Macht sie diese Nähe nicht nervös? „Doch. Mir entgeht nicht, dass der Wahltermin näher rückt, und es ist bekannt, dass wir beide für den Bürgermeister-Posten kandidieren“, erwidert sie.
Aber sie will weitermachen. Denn trotz dem Gezanke und Getuschele vor der Haustür betont sie immer wieder: „Man lernt viel“. Und „man steht in Kontakt mit Bürgern, kann mitgestalten und mitentscheiden sowie Vereine und das ländliche Sozialleben unterstützen“. Vor allem das Minidorf Rindschleiden mutiere gerade zu einem neuen Anziehungspol als Naherhohlungsgebiet, sowie für Slow-Tourismus, Kunst und säkulare Ritualkultur (d‘Land 19.8.2022). In ihrem Videobeitrag der Kampagne „Egalitéit liewen/Vivons l’égalite“ sagt die Wahler Bürgermeisterin: „Jiddereen, dee Loscht huet sech sozial ze engagéieren, soll net fäerten, sech bei de Walen opzesetzen.“