Am Beispiel ChatGPT zeigt sich einmal mehr, wie Bildung der Technologie hinterherhinkt. Der Umgang mit Künstlicher Intelligenz stellt schulische Institutionen vor grundlegende Herausforderungen

Maschinelles Lernen

Was das visuelle KI-Programm Dall·E produziert, wenn man „ChatGPT cyborg absorbing knowledge“ eingibt
Foto: Dall·E
d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2023

Alle im selben Bot Wird ChatGPT3 dazu aufgefordert, einen Artikel im Stil des Land zu verfassen, spuckt er innerhalb weniger Sekunden einen drögen Text zu den Fortschritten und Herausforderungen des Landes Luxemburg aus, den wir Ihnen an dieser Stelle ersparen. Die Maschine hat nicht genug Daten aus der Zeitung zur Verfügung, um der Aufgabe gerecht zu werden. Die neuronalen Simulationen, die der Roboter namens ChatGPT3 aus dem Unternehmen OpenAI mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) erzeugt, rangieren jedoch von der Lösung komplexer Matheprobleme zu Computercode, literarischen Analysen und Einschätzungen zum Stand der europäischen Digitalwirtschaft. Zehn Milliarden Dollar wird Microsoft in den Roboter investieren, der seit seinem Erscheinen im November 2022 für Diskussionen und nicht minder Angst und Schrecken sorgt. Denn die Künstliche Intelligenz scheint mit ChatGPT3, Teil der sogenannten generative artificial intelligence, einen neuen, vorläufigen Zenit erreicht zu haben.

Die Urteile über die Performance der Software fallen je nach Aufgabe und Kommentator von „faszinierend“, „ein Gamechanger“, über „enttäuschend“ weil zu „relativierend“ bis hin zu „fehlerhaft“ aus. Das Programm collagiert aus Online-Dokumenten, Webseiten und Büchern in Sekunden Neues – und das oft auf höchstem Niveau, auch was Rechtschreibung und Grammatik angeht. Fest steht, dass diese Art von Textproduktion eine Wende im Fortschritt der Technologie einleitet. In der Europäischen Union soll bis Frühjahr 2024 ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, um die Grenzen von Künstlicher Intelligenz, die Risiken präsentiert, festzulegen. Vor allem für die Bildung stellen sich nämlich eine Reihe grundlegender Fragen. Manche Institutionen reagierten mit der eisernen Faust: In Australien haben acht Universitäten die Software verboten; von New Yorks Schulen wurde die Nutzung des Programms ebenso verbannt. In den Vereinigten Staaten, wo es bereits Studentenbetrug durch ChatGPT gab, vernetzen sich Universitäten zu Task-Forces, die den Umgang damit diskutieren wollen, etwa wie sich das Abfragen von Wissen durch texterzeugende KI verändern wird.

The Limits of Control Einer unwissenden luxemburgischen Englischlehrerin, der wir die Antworten zur Fragestellung des Englisch-Premièresexamen aus dem Jahr 2019 der Sektion A zu Macbeth und A Handmaid’s Tale vorgelegt haben, benotet die Leistung von ChatGPT zwischen gut und sehr gut. Der Essay, der über das kanonisierte Shakespeare-Werk geschrieben werden musste, indem Schüler/innen anhand von textlichen Elementen das Übernatürliche im Theaterstück illustrieren sollten, und für den sie maximal 30 Punkte bekommen konnten, sei „sprachlich sehr gut und inhaltlich fundiert“, so das Feedback der Lehrkraft. Dass der Text von einer Maschine geschrieben wurde, ist ihr nicht aufgefallen. Nach Aufdecken merkt sie allerdings an, die Sprache habe eher nach einem Muttersprachler geklungen.

Gegensoftwares sollen auch in Luxemburg genutzt werden, um zu kontrollieren, ob ein Text eventuell mit KI geschrieben wurde. Sie sind noch nicht besonders fortgeschritten. Im Falle des ChatGPT-Englischexamens urteilt die App ChatZero, die von einem Princeton-Student entwickelt wurde: „Your text is most likely human written but there are some sentences with low perplexities“. Und fügt hinzu: „The nature of AI-generated content is changing constantly. While we build more robust models for GPTZero, we recommend that educators take these results as one of many pieces in a holistic assessment of student work.” Ein Katz-und-Maus Spiel: ChatGPT und seine Kontrollorgane werden zeitgleich besser. (Das Bildungsministerium arbeitet gerade an einem zeitnahen Newsletter, um das Lehrpersonal über die KI-Apps und ihre Kontrolloptionen zu informieren.)

Vorsicht und Skepsis sind mehr als angebracht. Denn ChatGPT arbeitet mit Plausibilitäten, also Wahrscheinlichkeiten, und integriert so eben auch Fake News, die im Internet zirkulieren, in seine Antworten. Die Gefahr geht auch von anderen, spezialisierteren KI-Applikationen aus, die den Rechercheaufwand eines Wissenschaftlers zwar bedeutend erleichtern, mitunter aber auch inkorrekte Daten enthalten – ein Teufelskreis.

Copy Paste Bei den Bildungsakteuren in Luxemburg herrscht insgesamt Einigkeit, dass ein Verbot keine Lösung darstellt. „Wir müssen akzeptieren, dass KI die Art und Weise, wie wir die Arbeiten der Studenten bewerten werden, verändern wird“, sagt Catherine Léglu, Vizerektorin an der Uni Luxemburg. Es sei zu früh, um genau zu sagen wie, allerdings stelle sie sich vor, dass in Zukunft mündliche Examen, Präsentationen und laufende Kontrolle wichtiger werden. „Wenn wir uns auf das Engagement des Studenten konzentrieren, und aus einer reinen Dissertationsoptik herauskommen, wird es klappen“. Man könne KI live benutzen, um Applikationen wie ChatGPT gemeinsam kritisch zu hinterfragen, sie also in den Unterricht einbinden, um ihre Chancen und Probleme zu verstehen und einen bewussten Umgang damit zu ermöglichen. Catherine Léglu sieht die Institutionen klar in der Verantwortung, die jungen Erwachsenen und Schüler/innen in einem kritischen Umgang mit der KI zu unterstützen und so ihre Reflexion zu stärken. An der Uni wird indes über digitale Ethik nachgedacht, und Forschungsgruppen werten die Antworten von KI-Tools wie ChatGPT gezielt auf Originalität und Logik aus, um sie besser einzuschätzen. Und die Richtlinien, die akademischen Betrug definieren, werden gerade aktualisiert, um KI zu beinhalten.

Auch in Sekundarschulen wird bereits informell über das Thema gesprochen. Raoul Scholtes von der Féduse bestätigt, das Bewusstein darüber steige unter Sekundarlehrer/innen. „Nach dem Taschenrechner, dem Internet und Copy Paste kommt hier ein weiteres Mittel, mit dem wir zurechtkommen müssen“, sagt er. Das Bildungssystem passe sich dem Wandel nicht schnell genug an, und das Lehrpersonal müsse durch die rasanten technologischen Fortschritte „ewige Aufmerksamkeit und Anpassung“ an den Tag legen. In den Prüfungssituationen der Sekundarschule säßen Schüler mit „Blatt, Stift und Gehirn“ im Saal, sodass dort kein Betrugsrisiko bestünde.

Im Fach Digital Sciences, das zur Rentrée 2024 flächendeckend ab 7e bis 5e eingeführt wird, wird KI thematisiert. Mike Dostert, verantwortlich für die Schulentwicklung und Mathelehrer am Lycée Aline Mayrisch, erklärt, künstlich erzeugte Texte seien dann auf der 5e vorgesehen. Projektarbeit, bei der die Schüler verschiedene KI-Applikationen recherchieren und kennenlernen, gebe es an dieser Schule schon, doch das Bewusstsein bei den Schüler/innen sei noch nicht besonders groß. In seinen eigenen Mathekursen auf den hohen Klassen integriert er mathematische KI-Applikationen schon seit Jahren, um den Schüler/innen beizubringen, Resultate zu kontrollieren. „Der Diskurs um KI stellt eine große Herausforderung dar, denn der Trend geht natürlich zu ‚Ich muss das nicht mehr lernen, die Maschine macht das schon’“. Wie die Wissensvermittlung der Zukunft wohl aussehen wird, wenn ein Roboter den Praxisexamen, der jemanden an der Yale Universität dazu befähigt, in den USA Medizin auszuüben, ohne Weiteres schafft? Wie diese Umwälzung nicht nur den Bildungsbereich, sondern die Gesellschaft verändern wird, diese Fragen und ihre Antworten muten sich bisher nur die wenigsten zu – sicherlich auch, weil sie so ungreifbar erscheinen. Dass es bei banalen Hausaufgaben immer weniger um ein Resultat gehen kann, das ohne Erklärung abgegeben wird, scheint im Vergleich weniger bedeutsam.

Hölderlin „Es wird immer schwieriger werden, einem Schüler zu erklären, dass er eine Klasse nicht geschafft hat, weil er die französischen Grammatikendungen nicht kann“, sagt Lex Folscheid, erster Regierungsberater im Bildungsministerium. Natürlich gebe es keine Kompetenzen ohne Wissen, und in zehn bis fünfzehn Jahren sei jeder Kurs ein Stück weit digital science. Das Ministerium aber will im Gegenzug zum rasanten Tech-Fortschritt neben Coding die sogenannten vier Ks stärken: Kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration. Dies seien urmenschliche Kompetenzen, und das Ideal einer humanistischen Bildung sei nach wie vor von größter Bedeutung, entgegnet Lex Folscheid. Auch wenn automatisierte Prozesse den Menschen in Zukunft in vielen Bereichen ersetzen würden, „bilden wir nicht für den Arbeitsmarkt aus, sondern für einen starken Menschen und einen starken Bürger“. Zu dieser Kompetenzentwicklung gehöre eben auch, sich länger mit einem Hölderlin-Gedicht zu befassen. Ein Back-to-the-roots, um der maschinengetriebenen Seelenlosigkeit zu trotzen.

An den mannigfachen Reaktionen der Menschen auf ChatGPT zeigt sich jedenfalls die Essenz des Menschseins im Wechsel zwischen Besorgnis und freudiger Spielerei. Die zahlreichen Versuche, die User/innen an den Tag legen, um das Programm einzuschätzen, zu überlisten, seine Grenzen auszuloten und aufzuzeigen, sind auch eine Art Versicherung von uns an uns selbst, dass wir ihm immer noch „überlegen“ sind, dass wir noch nicht ganz obsolet geworden sind in unseren geistigen Tätigkeiten als Reporter/innen, Sachbearbeiter, Mathelehrer oder Reiseführer, während wir immer intensiver mit Maschinen koexistieren. Da es in der Natur der KI liegt, dass sie sich stets verbessert, dürften wir dieses Gefühl wohl nur auf Zeit gepachtet haben. OpenAI wird bald die nächste, bessere Version von ChatGPT vorstellen: ChatGPT4, und Google hat einen Roboterrivalen in der Form von LaMDA erschaffen. Ein Mensch wird es immer noch nicht sein. Konfrontiert mit einem Song, der von ChatGPT in Nick-Cave-Manier geschrieben wurde, hielt Nick Cave treffend fest: „ChatGPT’s melancholy role is that it is destined to imitate and can never have an authentic human experience, no matter how devalued and inconsequential the human experience may in time become.“

Sarah Pepin
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