Seit 77 Jahren regiert die LSAP die Stadt Düdelingen. Wie konnte es dazu kommen? Und wie lange kann das noch so weitergehen?

The Golden City

Die Stadt Düdelingen  ist eigentlich  ein Dorf
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 13.01.2023

Kuba Es sei ein Entwicklungsprojekt des Escher Jongelycée mit Kuba gewesen, das ihn vor 30 Jahren als Schüler dazu bewegt habe, den Sozialisten beizutreten, erzählt der Düdelinger Bürgermeister, Abgeordnete und LSAP-Ko-Präsident Dan Biancalana (45) am Dienstagnachmittag im Sitzungssaal des Schöffenrats im Rathaus. Als die kubanischen Revolutionäre 1959 den Diktator Batista stürzten, um einen sozialistischen Staat zu errichten, regierte die LSAP schon 13 Jahre mit einer absoluten Mehrheit in der „Forge du Sud“. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Damit nimmt Düdelingen selbst im traditionell „roten“ Süden eine Sonderstellung ein.

Doch wie konnte es zu dieser seit nunmehr 77 Jahren andauernden Alleinherrschaft der LSAP kommen? Die absolutistischen Weichen legte wohl der paternalistische Schmelzherr und spätere Arbed-Generaldirektor Emile Mayrisch, der schon früh in Düdelingen sein eigenes New Lanark errichtete. Für die Stahlarbeiter baute er Wohnungen, ein Sanatorium und ein Krankenhaus, sicherte sie sozial ab, richtete Kantinen und Economaten ein. „C᾽était un homme généreux, mais il n᾽hésitait pas à priver de ces bienfaits ceux qui lui manquaient de reconnaissance, s᾽opposaient à ses ordres ou adhéraient à un syndicat“, schreibt der Historiker Henri Wehenkel (d᾽Land; 11.01.2019). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei die Düdelinger Arbeiterschaft noch von ihrer bäuerlichen Herkunft geprägt und von der Schmelz und der Kirche beherrscht gewesen. 1919 unterstützte sie die revolutionären Bestrebungen von Teilen des Linksblocks zur Ausrufung einer Republik nicht und auch beim Referendum von 1919 sprachen sich ­– anders als in Rümelingen und Esch/Alzette – über 70 Prozent der Düdelinger für die Beibehaltung der Monarchie aus. Zwar stellte die Stadt mit Nic Biever, der 1920 hauptamtlicher Sekretär des vor allem bei katholischen Arbeitern beliebten Luxemburger Berg- und Metallindustriearbeiter-Verbands wurde, einen bedeutenden Gewerkschafter, der 1924 in den Gemeinderat und ein Jahr später in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Regiert wurde Düdelingen bis 1945 aber von der Rechtspartei.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich das ändern. Die paternalistische Herrschaft der LSAP begann 1946, als mit dem Resistenzler und Abgeordneten Jean Fohrmann erstmals ein LAV-Gewerkschafter und Sozialist Bürgermeister wurde. Fohrmann, der Düdelingen fast 20 Jahre lang regierte, war nicht nur politisch und gewerkschaftlich aktiv, sondern auch im Vereinsleben der Stadt tief verankert. Gleiches gilt für seinen Nachfolger, den Fußballer René Hartmann (1965–1973). Nicolas Birtz (1973–1984) – ebenfalls Fußballer – war der erste Bürgermeister, der keine direkte Verbindung zum LAV beziehungsweise zum OGBL hatte, anders als Louis Rech (1985–1993), der erste Düdelinger Bürgermeister mit italienischen Wurzeln. Konnte die LSAP seit Anfang der 1960-er Jahre Stimmenanteile von bis zu 67 Prozent verzeichnen, verlor sie in den 1980-er Jahren kontinuierlich an Zustimmung. 1993, als die Grünen erstmals auf zwei Sitze kamen, fiel sie auf 46 Prozent und konnte ihre absolute Mehrheit nur dank eines Restsitzes behalten. Rettung nahte mit dem damaligen „Coming man“ Mars Di Bartolomeo, der Rech als Bürgermeister ablöste. 1999 konnte die LSAP ihr Resultat wieder verbessern. Als Di Bartolomeo 2004 Minister wurde, löste ihn Jean Fohrmanns Enkel Alex Bodry ab, der bereits Regierungserfahrung gesammelt hatte. 2005 kam die LSAP zwischenzeitlich wieder auf 60 Prozent, verlor aber seitdem stetig. Mit Dan Biancalana, der das Amt 2014 von Bodry übernahm, kam die LSAP 2017 nur noch auf 50,3 Prozent, die beiden zusätzlichen Mandate, die der Gemeinde wegen der Überschreitung der 20 000-Einwohner-Grenze zustanden, konnte die CSV erobern. Trotzdem konnte die LSAP ihre absolute Mehrheit erneut verteidigen.

Das wollen sämtliche Oppositionsparteien künftig ändern. Zu lange herrsche die LSAP alleine, das sei ungesund, heißt es sowohl von der CSV als auch von den Grünen und der Linken. Andere Parteien sind in der viertgrößten Stadt Luxemburgs nicht vertreten: Die DP ist seit 2005 (als sie den Einzug in den Gemeinderat verpasste) nicht mehr angetreten, ob sie dieses Jahr genug Kandidat/innen findet, weiß sie noch nicht. Die ADR konnte ihren 2011 gewonnenen Sitz 2017 verteidigen, doch ihr Mandatsträger Vic Haas, ein Düdelinger Urgestein, hat die Partei 2019 verlassen. Seitdem agiert der unabhängige Rat eher als Mehrheitsvertreter, seit 2020 gibt er als einziger Nichtsozialist der Haushaltsvorlage seine Zustimmung. Deshalb wird in Düdelingen gemutmaßt, er habe sich inzwischen der LSAP angeschlossen.

Volkspartei In all den Jahren hat die LSAP es geschafft, eine breite Basis aufzubauen. Auch nach dem Niedergang der Stahlindustrie, dem damit einhergegangenen Strukturwandel und der Desyndikalisierung (Embourgeoisement) konnte sie ihren gesellschaftlichen Einfluss vor allem durch ihre Präsenz in den Vereinen aufrechterhalten. Seit Jahrzehnten ist sie alleiniger Ansprechpartner für Bürger/innen, die von der Gemeinde einen Gefallen wollen oder etwas von ihr brauchen. Viele Schlüsselpositionen hat sie mit Parteimitgliedern oder Vertrauten besetzt. Der Gemeindesekretär ist ein Urenkel des ersten sozialistischen Abgeordneten und früheren Rümelinger Bürgermeisters Jean-Pierre Bausch; das Kulturzentrum Opderschmelz wird geleitet von Louis Rechs Enkel John, Leiter des Service culturel, der 2018 für die LSAP bei den Kammerwahlen antrat; seine Vorgängerin Danielle Igniti war Präsidentin der Femmes socialistes; City Manager ist Claude Leners, Vater des LSAP-Hoffnungsträgers Max Leners. Und der freischaffende Fotograf Marc Lazzarini, der für den Schöffenrat PR-Bilder schießt, saß von 2014 bis 2017 für die LSAP im Gemeinderat – was zur Folge habe, dass Politiker/innen, die nicht der LSAP angehören, nur selten auf den offiziellen Fotos auftauchten, bestätigen sämtliche Oppositionsparteien übereinstimmend.

Die jahrzehntelange sozialistische Herrschaft spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des Gemeinderats wider. Sowohl Schöffin Josiane Di Bartolomeo-Ries als auch Gemeinderätin Martine Bodry-Kohn sind mit früheren Bürgermeistern verheiratet, Romy Rech, der bis 2017 im Gemeinderat saß und vorübergehend Schöffe war, ist der Sohn von Ehrenbürgermeister Louis Rech. Gemeinderat Alain Clement ist gleichzeitig Präsident des Düdelinger Geschäftsverbands. Außer einigen Oppositionsrät/innen scheinen diese Verstrickungen in Düdelingen bislang niemanden ernsthaft zu stören.

Dass die LSAP sich so lange an der Macht halten konnte, hat aber noch andere Gründe. In Düdelingen sei die LSAP stets gemäßigt gewesen und als Volkspartei aufgetreten, erklärt Alex Bodry. In ihre Schöffenratserklärung habe sie immer auch Vorschläge der Opposition aufgenommen und sei programmatische Kompromisse eingegangen: Aus der von CSV und Grünen vorgeschlagenen Fußgängerzone machte die LSAP ein Shared Space, aus ihrer Idee eines auto-freien Viertels wird eine autofreie Straße.

Tatsächlich wird den Sozialisten von der Opposition attestiert, vieles richtig gemacht zu haben. Anders als Esch/Alzette oder Differdingen hat Düdelingen die Stahlkrise rasch überwunden und den Wandel zu einer postindustriellen Gesellschaft ohne große Schwierigkeiten bewältigt. Das war sicherlich nicht nur der Düdelinger LSAP zu verdanken. Schon Anfang der 1980-er Jahre, bevor die Schmelz geschlossen wurde, siedelte die Regierung größere Betriebe in der nationalen Industriezone zwischen Düdelingen und Bettemburg an. Auch in den vergangenen Jahren ist es der Regierung und den Verantwortlichen der beiden Gemeinden gelungen, neue Firmen anzuziehen, auch wenn die Ansiedlung des Großbetriebs Fage am Widerstand der Grünen scheiterte.

Segregation Es ist vor allem die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung, die Düdelingen von den anderen großen Industriestädten im Minett unterscheidet. Das Bildungsniveau ist höher als in Esch und Differdingen, das Medianeinkommen auch; der Anteil an Revis-Empfänger/innen ist geringer, die Arbeitslosenquote ebenfalls. Nicht zuletzt haben in Düdelingen über 60 Prozent der Einwohner/innen die luxemburgische Nationalität (in Esch und Differdingen sind es um die 45 Prozent), die portugiesische Gemeinschaft macht nur ein Fünftel der Bevölkerung aus (in Differdingen ist es ein Drittel). Die Düdelinger selbst – unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit – führen diese Umstände auf die starke Identifikation der „autochtonen“ Bevölkerung mit ihrer Stadt zurück. Düdelingen sei ein Dorf, der gesellschaftliche Zusammenhalt und die soziale Kontrolle seien den Einwohner/innen wichtig, sagt die Kinderärztin Michèle Kayser-Wengler, Sprecherin der CSV im Gemeinderat und voraussichtlich alleinige Spitzenkandidatin für die anstehenden Kommunalwahlen. Nicht umsonst heiße es „eemol Diddelénger, ëmmer Diddelenger“, erklärt Bürgermeister Biancalana. Die durchschnittliche Wohndauer liege in Düdelingen bei 25 Jahren, viele junge Menschen, die in der Stadt aufgewachsen sind, würden dort bleiben oder nach ihrem Studium zurückkehren. Das liegt wohl auch daran, dass die Gemeinde viel für Jugendliche tut. Vor 20 Jahren baute sie mit ihnen zusammen den Skatepark „Schmelz“, der zu einem Anziehungspunkt in der gesamten Minettregion wurde. Ein partizipatives Projekt ist auch der Kreativort VeWa, der in einer Industriehalle eingerichtet und im Mai eröffnet wurde.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Wohnungspreise – insbesondere für Einfamilienhäuser in der kleinbürgerlichen Nordhälfte Düdelingens – wesentlich höher als in den meisten anderen Städten im Minett sind. Das führe zu „Segregation“, weil Familien aus unteren Einkommensschichten sich kaum noch etwas in Düdelingen leisten könnten, unterstreicht die Architektin Semiray Ahmedova, Abgeordnete der Grünen und seit zwei Jahren neben Monique Heinen Mitglied im Gemeinderat. Abhilfe soll nun das neue Viertel Nei Schmelz schaffen, das der Fonds du Logement auf der Industriebrache an der Grenze zu Frankreich baut. Fast 1 600 Wohneinheiten sollen in den nächsten 15 Jahren hier entstehen. Das Projekt wurde vor über zehn Jahren vorgestellt, ohne dass bislang auch nur ein Bagger gerollt ist. Offenbar lag das daran, dass der Staat und der Eigentümer der Brache, Arcelor-Mittal, sich nicht einig wurden, wer für die Dekontamination des Bodens aufkommen soll. Diese Kosten übernimmt nun der Fonds du Logement, allerdings wird die verseuchte Erde nicht wie üblich abgetragen, sondern es wird ein Meter aufgeschüttet. Die beiden Finanzierungsgesetze wurden im März 2022 von der Kammer angenommen, noch vor den Wahlen sollen die Arbeiten beginnen.

Wegen der Wohnungsnot hätte ihre Partei sich gewünscht, dass das Viertel Nei Schmelz etwas dichter bebaut werden würde als derzeit geplant, sagt ihrerseits die Ko-Parteisprecherin von déi Lénk, Carole Thoma, die voraussichtlich Ko-Spitzenkandidatin in Düdelingen wird und ihre Mutter Tessy Erpelding im Gemeinderat ablösen könnte. Doch Bürgermeister Biancalana weist das mit dem Hinweis zurück, dass das Verkehrsaufkommen zu hoch werde, wenn noch dichter gebaut werde. Die Mobilität ist bereits seit Jahren das Hauptthema in der Schmiede des Südens. Über kaum etwas anderes können die Düdelinger sich so leidenschaftlich aufregen wie über die Blechlawinen, die zu den Hauptverkehrszeiten durch das Dorf rollen. Die beiden Bahnübergänge, die dafür mitverantwortlich sind, sollen irgendwann verschwinden. Im neuen allgemeinen Bebauungsplan ist das vorgesehen, ein Zeitplan steht indes noch nicht fest. Auch der öffentliche Transport bereitet den Düdelingern Sorgen. Direktzüge in die Hauptstadt sollen frühestens 2030 fahren, wenn die Gleise nach Bettemburg an verschiedenen Stellen ausgebaut sind. Verkehrsminister François Bausch (Grüne) hat auch einen bus à haut niveau de service über Belval nach Petingen versprochen, doch da wollten eigentlich nur die wenigsten Düdelinger hin, sagt Michèle Kayser-Wengler. Sie hätte gerne eine Tram nach Bettemburg, dann sei auch das Problem mit den Bahnübergängen gelöst. Doch die LSAP halte das für keine gute Idee, weil dann die Düdelinger doch wieder in Bettemburg auf die Bahn umsteigen müssten, um in die Stadt Luxemburg zu kommen, entgegnet der Bürgermeister.

Schnëssen Ansonsten stößt sich die Opposition vor allem an Details. Grundsätzlich sind im Düdelinger Gemeinderat aber alle der Ansicht, dass es sich in ihrem kleinen 21 000-Einwohner Städtchen ganz gut leben lässt. Das kulturelle Angebot sei reichhaltig, die Hauptgeschäftsstraße wesentlich belebter als in vergleichbaren Gemeinden, an Wald- und Naherholungsgebieten fehle es nicht. Im Dorf gebe es noch kleine Läden, mehrere Bäcker, schöne Cafés und gute Restaurants. Donnerstags auf dem Markt begegne man immer „ee fir ze schnëssen“ und Kriminalität sei nur ganz selten ein Thema.

Viele gute Gründe, die Sozialisten abzuwählen, gibt es demnach nicht. Die sieben Hausherren haben ihre Stadt in den vergangenen 77 Jahren mit viel Feingefühl regiert. Allerdings gehen in Düdelingen alle fest davon aus, dass Dan Biancalana im Oktober Minister wird: Vorausgesetzt er schafft es, die absolute Mehrheit in seiner Heimatgemeinde noch einmal zu verteidigen. Dass die LSAP in die Regierung kommt, steht in Düdelingen außer Frage. Anders als seine Vorgänger hat Biancalana es bislang verpasst, einen Nachfolger aufzubauen. Sein erster Schöffe Loris Spina (50) gilt als ungeeignet beziehungsweise als zu bescheiden, um die Gemeinde zu leiten. Mit Josiane Di Bartolomeo-Ries (57) könnte erstmals eine Frau die Geschicke der Stadt übernehmen. Obwohl sie durchaus als kompetent eingeschätzt wird, halten ihr (andere) Feministinnen vor, mit dem Nachnamen ihres in Düdelingen noch immer sehr prominenten Ehegatten in den Wahlkampf zu ziehen. Doch wer weiß: Vielleicht tut sich in den nächsten Monaten ja noch eine junge Sozialistin oder ein Sozialist hervor, die/den niemand auf der Rechnung hat. Schwierigkeiten, um genug Kandidaten zu finden, hatte die Diddelenger LSAP jedenfalls nicht. Ihre Liste hat sie (als bislang einzige Partei) schon Mitte November vorgestellt. Sie ist so divers und ausgewogen, dass die anderen vor Neid nur erblassen können.

Luc Laboulle
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