Elfriede Jelinek ist Österreicherin und Nobelpreisträgerin. Ihr Theaterstück Winterreise, das bis zum gestrigen Donnerstag im Kapuzinertheater gespielt wurde, zählt als ihr persönlichster Text. Dabei enthüllt es sowohl alles als auch nichts vom Individuum Jelinek. Man erwartet Konfession und Entblößung, bekommt jedoch eine kunstvolle Decke aus dickem Stoff, die vor Kälte und Klartext schützt.
Der Schauspieler Max Thommes erklimmt die horizontale, schneebedeckte Bühne, als sei sie vertikal. Immerhin schleppt der Bergsteiger das ganz Bühnenbild mit sich: eine mehrstöckige Metallkonstruktion, die Schauspieler/innen und Instrumente samt Klavier, beheimatet. Der Cast kann stolz sein, die Bergkette Jelinek-Schubert-Müller erfolgreich bewältigt zu haben. Jelineks Winterreise bezieht sich auf Franz Schuberts Liederzyklus, der sich auf Wilhelm Müllers Gedichtzyklus, anno 1824, bezieht.
Die Winterreise teilt sich in acht Kapitel auf, die sich alle mit dem Thema Zeit beschäftigen. Die Schauspieler/innen tragen abwechselnd Monologe zum Thema vor. „Sogar das vorbei läuft vor; am vorbei kommst du nicht vorbei”, heißt es, und es ist eine von vielen Zeilen, die zwischen literarischer Brillanz und Poetry-Slam-Durchschnittlichkeit oszillieren. Zwischen den Monologen – einer davon wird mit dem Rücken zum Publikum gespielt – werden auch Tieren nachgeahmt und zusammen gesungen; es sind absurde la-la-la Vokalaussprachen, weil die Poesie sich in der Prosa befindet.
Kapitel vier und sechs sind die Höhepunkte. Nummer sechs bewegt sich in Richtung Stand-Up-Comedy. Catherine Elsen schlüpft durch eine riesige Vulva und tratscht über Leben, Tod, Nazis und Mutterliebe – auf Englisch. Ironischerweise ist dies das verständlichste Kapitel.
In Kapitel vier ist der Bergsteiger Thommes eine Hexe. Seine Gestik und Mimik sind so befremdlich, dass man sich kurz nicht mehr wundert, warum früher Hexen verbrannt wurden. Entfremdung, nicht Zeit, ist das tatsächliche Thema von Winterreise. Was familiär ist - Gangart, Sprache, Sonstiges - wird entfremdet. Wenn man das Familiäre, was entfremdet wird, jedoch nicht kennt, läuft die Aussage an einem vorbei. Wem zum Beispiel Natascha Kampusch kein Begriff ist – bei einem luxemburgischen Publikum ist dies wahrscheinlicher als bei einem österreichischen – kommt am „vorbei“ eh nicht vorbei. Das Fremde bekommt keinen Kontext. Das Fremde wird nicht erst familiär gemacht, es wird nur weiter entfremdet.
Trotzdem ist Winterreise ein ausdrucksstarkes Stück. Bühnenbild und Schauspieler/innen überzeugen dermaßen, dass Jelineks Stück auch ohne Deutschkenntnisse genießbar wäre.