Mit Les glaces bringt Sophie Langevin einen Text der kanadischen Autorin Rébecca Déraspe auf die Bühne des Escher Theaters

(Spiel-)Arten der Verleugnung

d'Lëtzebuerger Land vom 01.11.2024

Missbrauchsmythen sind Stereotype, die beim Thema Vergewaltigung im Kopf aufgerufen werden. Die Schriftstellerin Mithu Sanyal spricht von rape culture. In Windeseile wird die Erzählung umgekehrt, das Opfer habe es doch bestimmt irgendwie provoziert – manchmal muss dafür immer noch der Minirock herhalten. War sie stark geschminkt und wieso war sie überhaupt noch spät nachts unterwegs? Gerade junge Frauen würden doch zur emotionalen Übertreibung neigen, heißt es dann oder waren doch „ein bisschen“ einverstanden mit dem gewaltsamen sexuellen Akt.

Als Noémie erfährt, dass ihr Sohn Théo der Vergewaltigung beschuldigt wird, bricht ihre verdrängte Vergangenheit schlagartig wieder auf. Der Angriff wirft sie auf ihre eigene Vergangenheit zurück: Auch sie wurde in der Jugend von zwei Mitschülern, Vincent und Sébastien, missbraucht. – Eine Vergewaltigung, die tief in ihrem Innersten vergraben war. Die Tat ihres Sohnes bringt sie dazu, sich dieser Vergangenheit und die beiden Täter zur Rede zu stellen ... Sie konfrontiert ihre beiden Jugendfreunde, die sie 25 Jahre zuvor am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms missbraucht haben, damit.

Die frankophone Regisseurin Sophie Langevin hat den Text der kanadischen Autorin Rébecca Déraspe für die Bühne adaptiert, um eine Diskussion anzustoßen. Wie viel Zustimmung braucht es? Wo verläuft die Grenze zum Missbrauch? Und: Wie lassen sich die Muster des Schweigens und der Verleugnung durchbrechen?

„Les glaces wurde 2023 als bestes Drama in Québec ausgezeichnet und bricht mit den Stereotypen rund um sexuelle Übergriffe, während es gleichzeitig den Schleier der Emotionen lüftet, die dazu führen, dass man sich in ein ohrenbetäubendes Schweigen einmauert und dieses dann mutig bricht“, liest man im Ankündigungstext.

Die Metapher des Eises bezieht sich auf eingefrorene Erinnerungen in einem lebendigen Körper. Nach einer erlittenen Vergewaltigung (ge-)friert das Innere regelrecht und verdrängt die Erinnerung an das Erlittene, um weiterleben zu können. Dass dieser Zustand häufig lange nicht aufgebrochen wird, liegt nicht zuletzt an der Stille des familiären Umfeldes, das darüber schweigt oder das Geschehene herunterspielt.

Das Bühnenbild im Escher Theater (Peggy Wurth) ist schlicht, bietet jedoch den passenden Rahmen: Ein Gerüst, Stangen und eine Leinwand für Projektionen lassen viel Raum für Phantasie und geben dem Text vor allem den nötigen Raum.

Rund 25 Jahre später kocht auch in der Partnerschaft von Vincent die schlummernde Geschichte hoch, Misstrauen überschattet die Beziehung – und führt zur Trennung.

Der Vater (Francesco Mormino) schlurft im Bademantel und Pantoffeln über die Bühne und nimmt seinen Sohn nach der Trennung mit offenen Armen bei sich zu Hause auf. Sein Unvermögen über den Trennungsgrund zu reden, spiegelt zugleich das Unvermögen einer älteren Generation. Beim Dosenbier (der Vater bietet ihm eins nach dem nächsten an) einigen sie sich auf das Narrativ: „So ist das Leben!“ Und der Vater unterstellt seinem Sohn Vincent nichts Böses, weicht aus und entschuldet ihn schonmal im Vorfeld: „Heute übertreiben sie doch alle.“

Per Videoprojektion wird ein junges Mädchen eingeblendet. Sie muss sich rechtfertigen, was sie als Bekleidung trug, als die Vergewaltigung geschah: Ein von Misstrauen geprägtes Kreuzverhör, denn jedes Wort wird von der Befragerin in die Waagschale gelegt. Was ist geschehen? Sie hatten ihr geschmeichelt und ihre Versuche, sie zu stoppen, übergangen ...

Vincents Schwester (Renelde Pierlot) neckt ihren Bruder, als sie ihn in seinem Kinderzimmer vorfindet. Und will ihn dazu bringen, auszugehen. Auch sie wird irgendwann mit ihrem Schweigen als Komplizin konfrontiert.

Er hat erstmal keinen Bock, seine Jugendfreunde wiederzusehen, die rassistische Vorurteile verinnerlicht haben, wie die, dass Quebec aufgrund der Einwanderung eine von Islamisten unterwanderte Stadt geworden ist.

Das Licht in der Bar nebst Sound reißt das Publikum kurz mit. Würde das schwere Thema nicht in der Luft hängen, hätte man Lust auf die Bühne zu springen und zu tanzen ... Ein kurzer unbeschwerter Moment. Unterirdisch dagegen die Unterhaltung zwischen den beiden Tätern Vincent und Sébastien: Jungs-Geplänkel über Feminismus, das ins Leere läuft.

Rébecca Déraspes Text ist dennoch in weiten Teilen stark, nicht zuletzt, weil er über die männlichen Figuren deren Unzulänglichkeit entlarvt, für ihre Taten einzustehen. Die Vergewaltigung von Noémie wird beständig heruntergespielt. „Wir haben sie ja nicht gezwungen“ oder nur „ein bisschen“ ... mündet in gekränkter Männlichkeit und dem Versuch, ihr einzureden, dass sie ja auch irgendwie Lust darauf hatte. Schließlich erfolgt die Täter-Opfer-Umkehr und das erwartbare Victim-Blaming.

Und als die Täter ihr schließlich gegenüberstehen, hat die einst Missbrauchte, Noémie, die Größe zu sagen, „Ich verstehe, dass es schwer für euch ist“, um rasch zu kapieren: „Ihr seid einfach zu klein, um eine Schuld einzugestehen und um Entschuldigung zu bitten.“

Etwas trashig wirkt die Szene, in der Vincents Frau sich selbst (und leider ihre Tochter) direkt befragt, wie ihre Zukunft aussehen wird. Da schiebt sie den Kinderwagen auf die Bühne und hält einen Monolog vor dem Kleinkind: „Irgendwann wirst Du auch Deine Regel bekommen, Clara ... und lieben lernen. Aber es ist scheiße. Würdest Du mit jemandem zusammenbleiben, der schon ein Mädchen vergewaltigt hat?“ Muss Frau ihre Sorgen tatsächlich ihrem Neugeborenen anvertrauen?

Der Teufelskreis, den Déraspe in ihrem Text veranschaulicht und Sophie Langevin auf der Bühne transportiert, wird deutlich: Eine Vergewaltigung markiert einen schockartigen Einschnitt im Leben jeder Frau. Die beteiligten Individuen werden in dem Stück mit sich selbst konfrontiert. Und ihre Leser/innen respektive das Publikum soll das Schweigen brechen, diese Spirale unterbrechen und sich im besten Fall selbst infrage stellen.

Es ist das Fortbestehen von Haltungen, ihre Wiederholung über Generationen, die in dem Stück thematisiert wird. Noémie wurde vergewaltigt, ihr Sohn hat vergewaltigt. Alle hüllen sich in Schweigen. Gibt es eine Möglichkeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen?

Es wird deutlich: Ein jeder schweigt, verdrängt, verleugnet auf seine/ihre Art. Doch die fast zweistündige Inszenierung plätschert etwas vor sich hin – ohne Spannungsbogen oder besondere Einfälle. Figuren treten auf, wieder ab und sprechen ihren Text. Irgendwann werden sich fast alle Mit-Beteiligten retrospektiv Vorwürfe machen und ihre (Mit-)Schuld ein Stück weit eingestehen; am Ende steht die Ermutigung, Anzeige zu erstatten.

Es ist ein hehres Anliegen, das gesellschaftliche Schweigen, das über Missbrauchsfällen liegt, zu brechen. Dies auf der Bühne zu verhandeln, ist ein Wagnis. Die Inszenierung Sophie Langevins wagt sich mutig an das auch auf der Bühne nicht gängige Thema heran. So lebt der Abend vom Text Déraspes, lässt einen angesichts der erwartbaren Form und dem deutlich im Appell liegenden Herangehen jedoch etwas ratlos zurück.

Anina Valle Thiele
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