Der Begriff ist so sperrig wie vielschichtig. Apoplexie stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Schlag“. In der Antike und im Mittelalter wurde er benutzt für schlagartige Ereignisse mit Bewusstseinsverlust oder mit teilweisen Lähmungserscheinungen sowie für Leiden des Gehirns, die dem Körper unvermittelt Empfindung und Bewegung nehmen.
In der Medizin ist der Begriff gebräuchlich für eine schlagartig auftretende Störung von Hirnbereichen, ein Gehirnschlag oder wenn etwa ein Angehöriger stirbt und der Betroffene durch den Verlust unter Schock steht ... In der Botanik bezeichnet Apoplexie ein plötzliches oder gänzliches Aussterben der Krone von Steinobstbäumen.
In Claire Thills Hörstück stirbt der Vater der Protagonistin, Anna, an Apoplexie. So „beginnt ihr neues Leben mit einem Schlag.“ Als Alleinerbin steht sie vor einem Haufen an Erinnerungsstücken und vor ihren individuellen Erinnerungen. Das Erbe schlägt sie aus. Irgendwo wird sie eine Kassette mit der Aufschrift „Malina“ finden. Ihre Gedankenflut und ihr Aufbruch markieren den Beginn einer Reise ins Ungewisse. Ein Kater erobert das Haus ...
Basierend auf dem interaktiven Performance-Projekt „Taxidermy“ entwickelte Claire Thill 2019 dank der Unterstützung der Bourse Kappkino das Hörstück, in dessen Mittelpunkt eine Frau steht. Aufgrund der Covid-19-Pandemie konnte das Projekt bisher nicht als Bühnenstück aufgeführt werden; es sei ein multisensorielles Theaterhörspiel, das zwischen Musik, Text und Performance mäandere und in vielerlei Hinsicht den Rahmen eines herkömmlichen Theaterabends sprenge, erfährt man im begleitenden Flyer. Denn die Geschichte entfaltet sich ganz individuell in den Köpfen der Zuschauer/innen.
Ein Highway im Nirgendwo. Regen prasselt gegen die Autofenster, ein Szenario wie bei David Lynchs‘ Lost Highway oder Mulholland Drive: Jugendfilme, von denen man stets glaubte, sie wären unter Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen besser zu verstehen gewesen.
So bricht die Protagonistin auf und lässt alles hinter sich: den Job, die Termine. Ihr Auto ist ein Faraday’scher Käfig, wie ein wildes Tier ist sie darin gefangen. Das Wetter bei diesem Roadtrip: „Kälte eskortiert von Sonnenschein“.
Erinnerungsfetzen peppen hoch, und eine Schlagzeile treibt sie um: Die von dem Tod von 323 Rentieren, die vom Blitz getroffen wurden; es stellt sich ein ähnliches Unbehagen ein, wie bei der Lektüre von Markus Thielemanns Roman Von Norden rollt ein Donner, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand. Die Heimsuchung liegt förmlich in der Luft.
Irgendwann erscheint ein Hirsch vor dem Fahrzeug. Eine Halluzination? Irgendwo im Nirgendwo nimmt die Protagonistin schließlich ein Hotel, blickt zurück. Doch kann man „einfach so ein neues Leben anfangen – als wäre es ein Zigarettenstummel, den man locker flockig aus dem Fenster schnipst“?
Das Publikum ist herausgefordert. Eine Stunde lang blickt es auf ein und dasselbe Bild: ein Muster; das Muster eines Daumens? Die Leinwandfarbe ändert sich mit der Erzählung, fallen von anfangs Weiß in Lila, Grün, Rot ...
Im Verborgenen begleiten Catherine Kontz und Céline Bernard mit Sound-Effekten, Foley Art und dazu gibt es Originalkompositionen und Rahel Jankowski (und kurz Marc Baum) am Mikrofon. Ken Nngayandi orchestriert den Soundscape.
So entsteht eine Phantasmagorie, die von Text, Musik und Licht getragen wird. Die Sounds umhüllen die Protagonistin wie ein unsichtbarer Schleier auf ihrer Reise in ihr „neues Leben“.
Die Bilder aber entstehen in den Köpfen der Zuschauer/innen, als Kopfkino: „Stell dir vor, du liegst im frischen Gras. Die Sonnenstrahlen kitzeln dein Gesicht. Es riecht nach Frühling und du starrst in den Himmel. Die Wolken paradieren über deinem Kopf. Diese riesigen Watteknäuel aus verdunsteter Luft. Du schaust tief in ihre Formen hinein. Deine Träume öffnen sich. Ein großer Drache bläst Flammen in die Luft und ein hungriger Hund sitzt auf seinen Hinterpfoten. Gierig fragend nach einem Leckerli. Deine Gedanken schweifen aus ...“
Im Saal irgendwann ein Raunen über den Mangel an Regie-Einfällen. Doch das Konzept „Hörstück“ funktioniert, wenn man sich auf das Setting einlässt; sich darauf einzulassen und dann loszulassen ist conditio sine qua non. Die Asbl. Openscreen hat dieses Konzept seit 2004 entwickelt und das Kappkino seit 2017 sukzessive professionalisiert.
Claire Thills Text mag weird erscheinen, aber er ist durchaus mitreißend; die darin eingeflochtenen Bezüge zu Ingeborgs Bachmanns Malina muten vielleicht etwas bourgeois an. Aber auch Bachmanns Malina ist ein vielschichtiger Text.
Wer seine Erwartungen nach klassischem Theater zurückschraubt, kann sich so zurücklehnen und die Doppelbödigkeit und den Witz genießen: „Misstraue niemals einer Katze, denn sie steht mit zwei Beinen mehr im Leben als du!“