Zunächst muss eine Vorbemerkung gestattet sein. Es gibt einen Unterschied zwischen liberaler Politik und dem Liberalismus in seiner historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedeutung auf der einen Seite und der liberalen Politik, die von den Protagonisten dieser Sphäre als solche in diesen Tagen verkauft wird. Deutlich wird diese Diskrepanz vor allen Dingen bei der deutschen FDP, die sich von ihren liberalen Grundideen zu einer Law-and-Order-Partei entwickelt, die strikt und starr auf ihren Parteivorsitzenden Christian Lindner ausgerichtet ist. Deutlich wurde dies am vergangenen Wochenende, als sich die Liberalen zu ihrem Parteitag trafen.
Themen gab es genug. Vor allen Dingen außenpolitische. Trumps Absage des Iran-Deals und Appeasement mit Nordkorea. Emmanuel Macron, der den Karlspreis bekommt, und Angela Merkel, die sich mit Europa nicht so richtig anfreunden mag – was mit ihrer ostdeutschen Biografie begründet werden kann, aber nicht als Ausrede gelten darf. Dieses europapolitische Vakuum in Deutschland nutzte Christian Lindner aus, stürzte sich auf die EU und wollte den Kontinent und die Union zum hehren Sehnsuchtsort des Liberalismus erheben. Europa sei die Zukunft und müsse gerettet werden, so Lindner in seiner Parteitagsrede. „Europa muss seine Schockstarre überwinden“, so seine Forderung. Es sei bitter nötig, dass die Bundesregierung einen EU-Sondergipfel initiiere, damit der Kontinent bei Iran, bei der Ukraine, beim Welthandel wieder mit einer Stimme spreche. Jetzt, so Christian Lindner weiter, sei „Leadership“ gefragt. „Wenn Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher 1989 die gleiche Zögerlichkeit gezeigt hätten, hätte es die deutsche Einheit nie gegeben.“
Auftrag des Parteivorsitzenden an seine Partei, sein Land und Europa: „Ja zu einer gemeinsamen Außenpolitik! Ja zu einer Verteidigungsgemeinschaft! Ja zu einem digitalen Binnenmarkt! Ja zu einem europäischen FBI im Kampf gegen den Terror! Ja zu einer europäischen Grundlagenforschung!“ Oder knapper formuliert: „Es gibt nur eine europäische Handlungsfreiheit oder keine Handlungsfreiheit.“ Dazu sucht die Partei den europäischen Schulterschluss, will demonstrieren, wie gut man in der EU harmonisieren und gemeinsam Lösung finden kann, wie europäisch liberale Politik ist. Kaja Kallas, Vorsitzender der liberalen estnischen Reformpartei, darf reden. Mark Rutte, niederländischer Regierungschef, ebenfalls. Es sei schön, dass man die liberale Stimme aus Deutschland nun wieder „weit über die Grenzen hinaus“ vernehmen könne.
Für manche Liberale wird Europa damit zum Identitätsstifter und Heilsbringer, für andere zur Notlösung – in der Schlagzeilenflaute des politischen Alltags. Nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen im vergangenen Herbst haben es die Freien Demokraten schwer, zu Format und Inhalten zu finden. Botschaften und Sendezeiten sind wichtig, Profil und Inhalte noch mehr. Aber daran und vor allen Dingen an der Glaubwürdigkeit hapert es, nun, da die Partei wieder in den Bundestag eingezogen ist. Seitdem fällt sie vor allen Dingen durch den Zwist zwischen Lindner und seinem Partei-Vize Wolfgang Kubicki auf, durch Kubickis Wunsch nach Abschaffung der Russland-Sanktionen, durch unklare, diffuse Positionen und blasse Hinterbänkler, die um Worte ringen und Hilfe suchend nach ihrem Chef Ausschau halten, sobald sie ihre eigene Politik erklären sollen. Lindner hat die Deutungshoheit in der Partei – und damit in der gesamten liberalen Politik Deutschlands – für sich beansprucht.
Diese treibt Blüten: Lindner hat für den Parteitag die unbeholfene Losung „Innovation Nation“ ausgegeben. Oder anders formuliert: Wir wollen Deutschland mit noch mehr Innovationen immer noch moderner machen – und Europa gleich mit. Das ist die logische Fortführung des Bundestagswahlkampfs, der unter den Schlagworten „schnell, schön, digital“ die Partei nach vorne brachte. Genau an diese Stimmung möchten die Liberalen wieder anknüpfen. Dabei kann man leicht seinen Kern, sein liberales Fundament einreißen. Aber dies ist für den Augenblick egal. Denn im Moment geben ohnehin die Rechtspopulisten die Themen auf der politischen Agenda vor. Und auch Christian Lindner geht diesen auf den Leim, in dem er über jedes Stöckchen springt, das die „Alternative für Deutschland“ hinhält: „Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist oder ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter Ausländer.“ Genau dieser Satz wird der einzige sein, der diesen Parteitag in Erinnerung halten wird.
Zwei Tage später wird sich Lindner für die Bild-Zeitung perfekt ausgeleuchtet, im perfekt sitzenden Anzug und mit perfekten Zähnen in einer menschenleeren Bäckerei in Szene setzen lassen und seine Aussage wortreich erklären. Dabei zeigt sich, dass sich auch Christian Lindner nicht eindeutig gegen rechts abgrenzen und positionieren möchte – oder kann. Aus Angst einen wichtigen Trend zu verpassen und die ein oder andere Wählerstimme zu verlieren. „Nicht Umfragen sollen Politiker regieren; Politiker mit Überzeugungen sollen Umfragen prägen“, hieß es noch in seiner Parteitagsrede. Es ist an Lindner, dies zu beweisen. Er verordnet am Wochenende der FDP eine „liberale Wachstumsstrategie, die diese Partei in der Mitte der Gesellschaft verankert und zwar als zweistellige liberale Kraft“. Ohne Inhalte, ohne Abgrenzung. Nach der Erneuerung der FDP sei vor der Erneuerung der FDP.