Mehr als Dreiviertel aller Wähler stimmten für Wladimir Putin, als dieser sich am vergangenen Sonntag in seinem Amt bestätigen ließ. Wahlbeobachter sprachen von zahlreichen Auffälligkeiten, erheblichen Mängeln und Verstößen gegen eine freie und geheime Wahl: „Eine Auswahl ohne echten Wettbewerb ist leider keine echte Auswahl“, sagte der FDP-Bundestagabgeordnete Michael Georg Link, der Leiter der Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), in Moskau. „Wenn die gesetzlichen Umstände viele grundlegende Freiheiten einschränken und das Ergebnis nicht angezweifelt wird, verlieren Wahlen ihren Zweck.“ Doch das ficht den russischen Präsidenten nicht an. Gewählt ist gewählt. Gewonnen ist gewonnen. Europa hingegen tut sich schwer mit dem Machthaber im Moskauer Kreml, schwankt zwischen einer Politik der Wirtschaftssanktionen und Boykotte auf der einen Seite, auf der anderen sind einige europäische Regierungen versucht, Putin die Hand zu reichen, auf dass nicht noch mehr Unheil geschehe.
Die neue Bundesregierung kritisierte die Abstimmung: „Von einem fairen politischen Wettbewerb, wie wir ihn kennen, kann sicherlich nicht in allen Punkten die Rede sein“, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD). Dass die Wahl auch auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim stattgefunden habe, sei ebenfalls nicht akzeptabel. Im Vergleich zu seinem Amtsvorgänger Sigmar Gabriel (SPD) wählte Maas jedoch deutlich kritischere Töne. „Russland wird ein schwieriger Partner bleiben“, sagte der neue Außenminister. Zugleich betonte Maas, Russland werde für die Lösung internationaler Konflikte gebraucht. Um dieses Gebraucht-werden weiß Putin und gab nach seiner Wiederwahl zu Protokoll. dass sein Land konstruktive Gespräche mit den internationalen Partnern wolle.
Norbert Röttgen (CDU), Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, forderte im Umgang mit Moskau „Festigkeit und Wachsamkeit“. Jede Form von Nachgiebigkeit, die darin bestehe, Normverletzungen zuzulassen, sei falsch, sagte Röttgen in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Wir müssen mit Russland im Gespräch bleiben, aber zugleich die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie gegen russische Einflussnahme stärken“, sagte der osteuropapolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Manuel Sarrazin, der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel. Außerdem müsse Deutschland „Solidarität mit unseren Partnern in Zentraleuropa, auch gegenüber Russland“ zeigen.
Doch dann ist da auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der am Montag offenbar der erste westliche Staatschef war, der Glückwünsche an Putin sandte. „Zur Wiederwahl gratuliere ich Ihnen und den Bürgerinnen und Bürgern der Russischen Föderation“, schrieb der Bundespräsident in seinem Glückwunschschreiben. Er erinnerte an die europäischen Bemühungen, „eine dauerhafte, kooperative Friedensordnung“ zu schaffen. „Von diesem Ziel sind wir heute beunruhigend weit entfernt“, betonte der Bundespräsident. Er beklagte Misstrauen, ein „Klima der Unsicherheit“ sowie eine Entfremdung zwischen den Menschen in Russland und Deutschland. Am Abend gratulierte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel dem russischen Präsidenten zur Wiederwahl. Sie sprach sich dafür aus, den Dialog fortzusetzen und „wichtige bilaterale wie internationale Herausforderungen konstruktiv anzugehen“. Es seien dies Gepflogenheiten auf dem internationalen diplomatischen Parkett.
Nicht überall in Europa. Denn Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron verzichtete in einem Telefonat mit Putin am Montag ganz auf Glückwünsche. Macron habe „Russland und dem russischen Volk im Namen Frankreichs Erfolg bei der politischen, demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung des Landes“ gewünscht, ließ der Elyséepalast verlautbaren. Außerdem sprach der französische Präsident die Themen an, die das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen derzeit belasten: den Krieg in Syrien, den Konflikt in der Ukraine und den Giftanschlag im britischen Salisbury.
Die Sehnsucht nach einem greifbaren Feindbild scheint in der europäischen Politik groß zu sein. Ein Feindbild, das klar umrissen, bekannt, ein Gesicht und einen Namen hat, an dem man sich abarbeiten kann in krisengeschüttelten Zeiten. Ein Feind, der einigt und festigt – so wie nun etwa beim Giftgasanschlag im britischen Salisbury. Und Russland bedient diese Sehnsucht perfekt. Es lässt mit seiner Unberechenbarkeit, seinem Macht- und Dominanzstreben, seinen einsamen Entschlüssen, Machenschaften und militärisch-protzigen Vorgehen in den Krisenregionen der Welt eine Allmachtphantasie entstehen, die vor allen Dingen in der russischen Innenpolitik von wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten ablenken soll und nach außen das Bild zementieren, dass mit Moskau noch immer gerechnet werden muss – egal bei welchem Konflikt in welchem Land dieser Erde auch immer. Es scheint, als habe Putin große Freude daran, die Rolle des Brandstifters zu geben. Die Sanktionen, die die Europäische Union gegen Russland verhängt hat, hinterlassen Spuren in der russischen Wirtschaft, die vor allem die Bevölkerung treffen. Doch diese lässt sich von einem starken Mann trösten, der ihnen vermeintliche Größe vorgaukelt. Das Spiel funktioniert solange, wie sich Europa nicht zu einer einheitlichen, konsequenten Politik gegenüber Russland durchringen kann. Und auch gegenüber anderen Potentaten in dieser Welt, die sich auf ähnliche Rollenspiele verstehen.