Mit Ich kann meinem Hirn die Bilder nicht verbieten schafft die Compagnie du Grand Boube eine sinnliche Klang-Collage und weckt unkonventionell Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein gewagtes Experiment auf der Bühne des CapE

Im Klangrausch der Stimmen eines Tages

d'Lëtzebuerger Land vom 29.04.2022

Walter Kempowskis Echolot ist eine „große deutsche Geschichte“. Das Stück Ich kann meinem Hirn die Bilder nicht verbieten geht von dieser Textsammlung des Schriftstellers aus, der in seiner zehnteiligen Buchreihe die Gleichzeitigkeit und Vielfalt des menschlich Erlebten während des Zweiten Weltkrieges als „kollektives Tagebuch“ dargestellt hat – so erinnert die Compagnie du Grand Boube in Text und Musik an das Schicksal einzelner Menschen.

In Echolot lässt Kempowski Aufzeichnungen und Fotos chronologisch geordnet und unkommentiert – eine Vorgehensweise, die auch Kritik erntete. Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki äußerte etwa, Telefonbücher würde er nicht kommentieren. Die Stimmen von Täter/innen werden neben diejenigen der Opfer gestellt: Auszüge aus Tagebüchern, Briefen, autobiografischen Erinnerungen bekannter Personen wie Ernst Jünger und führender Politiker im NS mit jenen unbekannter Menschen, Soldaten wie Verfolgten und Ermordeten. Kempowski selbst war seinerzeit Mitglied der Hitlerjugend, sein „Widerstand“ bestand im Swing-Tanz.

Kempowski schwebte eine Collage vor, nach eigenen Aussagen etwas Ähnliches wie der Soziologe Walter Benjamin mit seinen unvollendeten Pariser Passagen (1927-1940) im Sinn hatte. So entlieh er Benjamins Maxime: „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“

„Unser Musiktheaterprojekt sendet Signale aus, produziert Klänge, entfaltet eine Komposition, die versucht, die Räume menschlicher Wahrnehmung zu erkunden, in die uns die unzähligen gleichzeitig, das heißt an einem einzigen Tag – dem 30. Januar 1943 –, aber verschiedenen Orts – etwa in Deutschland, der Ukraine, den USA, Polen – verfassten Texte führen“, beschreibt die Compagnie du Grand Boube das Vorhaben. Dabei interessiere vor allem, „die Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit der Erinnerung, nicht die kohärente und auf Fakten basierte Geschichtsschreibung“. Die Bühnenkunst übernehme hier die Rolle des Kollektivs, das die vielen Einzelschicksale miteinander vernetzte, so Mani Muller, der das Stück im Ettelbrücker CapE auf die Bühne gebracht hat.

Die Kulisse wirkt zugleich zusammengewürfelt wie sorgsam durchdacht: ein riesiger schwarzer Flügel, ein Misch-Board, kupferne Klangschalen, die von der Decke herabbaumeln. Die vermeintliche Unordnung: ein Schrank, ein aus der Zeit gefallenes Kofferradio, ein alter Diaprojektor, Fossilien eines Tiers erinnern zugleich an den Sammler Kempowski.

Per Diaprojektor werden Namen und Zitate an die Leinwand gebeamt. Zwischen verrauschten Geräuschen und eklektischen Klängen (unter anderem Timo Hein) stapfen Renelde Pierlot und Franz L. Klee in beigen Tarnanzügen wie Marsmenschen durch das Sammelsurium und verlesen durch kupferne Megaphone Briefe; dazwischen erklingen aus einem alten Kofferradio im Zentrum der Bühne knatternd Fragmente von Reden agitierender NS-Führer, die Stimme aus einer Rede Hermann Görings wird der der Sozialistin Käthe Kollwitz entgegengestellt.

Der Brief eines Soldaten aus Stalingrad wird verlesen. Pierlot liest heiser, mit gebrochener Stimme und mitunter stockend: „Später, wenn alles vorbei ist, werde ich Dir einmal alles erzählen.“ Dann ein abrupter Sprung: Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee (am 30. Januar 1943). Ein Arzt hat als Todesursache „Gasvergiftung“ festgestellt.

Schließlich werden die Spielpläne der Theater verlesen: ein Spiegelbild der Zeit! Pierlot verkriecht sich unter einer Filzdecke angesichts des einsetzenden Fliegeralarms.

Die eindrucksvolle Klang-Performance aus schrägen Tönen untermalt die Schreckensbilder des Zweiten Weltkrieges von Partisanenkämpfenden in Weißrussland, die auf offener Straße ermordet werden; Pferdekadaver; eine Frau mit Kind von einem Bajonett durchbohrt, von Faschisten angezündete Häuser ... geköpfte Menschen mit Axt; der nackte Leichnam eines Burschen blau-schwarz verbrannt. Franklin D. Roosevelt ertönt aus dem Radio und erklärt, dass die Vernichtung der deutschen Armee der einzige Weg zum Frieden sei.

Dazwischen sägende, schabende Geräusche an herabhängenden Kupferblechen und gigantischen Kuhglocken sowie Klavierklänge von Franz L. Klee. Das Zitat eines Gedichts von Paul Valéry, nach dem alle Werte verfälscht sind, erweist sich im Kontext einer erstarkten Rechten in Frankreich als verblüffend gegenwärtig, wie auch die evozierten Bilder des Vernichtungskrieges an der Ostfront einem in heutigen Tagen aktuell erscheinen.

Gerhart Hauptmann wird zitiert, während auf der Bühne Miniaturen zum Leben erweckt werden: Wenn von den ersten Flüchtlingskindern erzählt wird, die in Italien eintrafen, wird ein Puppenkoffer mit Accessoires zum Spiel eingesetzt. Und wieder: der Jüdische Friedhof Weißensee – Erinnerungen an ermordete Juden. Schließlich ein Auszug aus Anne Franks Tagebuch „Liebe Kitty ...“ – Amsterdam im Januar 1943. Abtransport eines jüdischen Menschen in den Osten. Es fallen Zahlen und Ziffern: „518 jüdische Kinder ins Gas! – Aus wie vielen Seelen besteht mein ich?“

Wenngleich einen aufgrund des unkommentierten Nebeneinanders Unbehagen beschleicht, ist Mani Mullers Inszenierung ästhetisch einfallsreich, unaufgeregt – und profitiert letztlich von diesem Unbehagen. Abseits der – vor allem in jüngster Zeit – auf luxemburgischen Bühnen und im Film überstrapazierten plakativen NS-Symbolik, die dem versuchten Erfassen kaum Raum bietet, wagt die Compagnie Grand Boube einen anderen Zugang. Die Texte und Stimmen erscheinen in der eklektischen Klang-Darbietung erschreckend gegenwärtig.

Ich kann meinem Hirn die Bilder nicht verbieten; Kreation der Compagnie du Grand Boube. Beruhend auf Walter Kempowskis Das Echolot. Regie und Dramaturgie: Mani Muller; Komposition, Tongestaltung und Klangkunst: Franz L. Klee, Timo Hein; Bühne und Kostüme: Peggy Wurth; Belichtung: André Sarret. Mit: Renelde Pierlot; Franz L. Klee und Timo Hein sowie den Stimmen von Leila Lallali und Nora König

Anina Valle Thiele
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