Wenngleich Sophokles Tragödien König Ödipus, Ödipus auf Kolonos und Antigone ursprünglich keine Trilogie bilden, werden sie aufgrund des inhaltlichen Zusammenhangs mit gutem Grund als „Thebanische Trilogie“ zusammengefasst, so Florian Hirsch im Begleitheft. „Diese be(d)rückende, fürchterliche Familiensaga über die fluchbeladenen Labdakiden erwies sich als bahnbrechend für Theater- wie Literaturgeschichte“, so der Dramaturg, der sich auf die deutsche Fassung von Simon Werle stützt. Frank Hoffmann inszeniert die Inzesttragödie rund um Ödipus, der nach einer Weissagung seinen eigenen Vater Laios tötet und mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder zeugt. Er wird zum Herrscher Thebens. Als ihm sein Schicksal bewusst wird, sticht er sich die Augen aus. Sein Schwager König Kreon übernimmt die Macht und gerät über den Erbfolgekrieg der Söhne des Ödipus, Polyneikes und Eteokles, in Konflikt mit deren Schwester Antigone, die Polyneikes, trotz Kreons Verbot, beerdigen möchte. Am Ende sind fast alle tot oder irre ...
Die antike Tragödie und ihre Leitmotive (der Vatermord und die Mutterliebe des verschmähten Sohnes) sind bis heute aktuell – man blicke nur auf die beiden von Macht berauschten französischen Präsidentschaftskandidat/innen: Stoff für die Klatschspalten der Boulevardmedien wie zeitloser Bühnenstoff! In der Hoffmann’schen Inszenierung fügen sich die drei Teile zusammen wie ein Puzzle. Es wirkt wie eine große Collage: ein Tableau, in dem es nicht an Regieideen mangelt.
König Ödipus bildet den Auftakt. Zwischen den drei Teilen fällt der Vorhang und der Titel wird in weißer Schreibschrift eingeblendet wie im Abspann eines Kinofilms. Die Figuren bewegen sich anfangs in Nebelschwaden, „Das geschmückte Volk sitzt im Parterre“, ertönt es aus den Zuschauerreihen (Chor).
Die Leidenschaft zwischen Mutter Iokaste (Jacqueline Macaulay) und Sohn Ödipus (Maik Solbach) hängt knisternd im Raum, wenngleich von Anbeginn ironisiert. Jacqueline Macaulay spielt Iokaste facettenhaft, zunächst mütterlich und selbstsicher, wenn sie anfangs etwa zwischen Kreon und Ödipus geht und ihnen die Ohren langzieht wie Lausbuben, später enttäuscht und gebrochen. Wolfram Koch gibt stark den Kreon: schelmisch, irgendwann rasend. – Ein irrer Diktator, der in seiner Gestik glaubhaft an den narzisstischen Tyrannen im Osten erinnert.
Maik Solbach ist ein überzeugender Ödipus, anfangs noch im Strampelanzug wie ein Riesenbaby, dem die Verwirrung über sein noch unbekanntes Schicksal ins Gesicht geschrieben steht und der diese Ratlosigkeit einfältig nach außen kehrt; im dritten Teil hingegen steht er nackt, wie ein Clochard, dem nur noch ein paar Lumpen vom Leib herabhängen. Marco Lorenzini spielt den blinden und gebrechlichen Seher Theseus, dessen offensichtlich angeschlagener Gesundheitszustand seiner Rolle gerade Glaubwürdigkeit verleiht.
Weite graue (Bühnen-)Welt
Der zweite Teil Ödipus auf Kolonos ist auf Rück- und Vorschau ausgerichtet. Auch Ödipus ist zum Seher geworden ... Beklemmung transportiert hier vor allem das eindrucksvolle Bühnenbild, das unverkennbar die Handschrift von Ben Willikens trägt, seit den 70ern bekannt für seine in monochromem Grau gehaltenen Interieurs. Es bietet den perfekten Rahmen und ausreichend weiten Raum, in dem die Figuren zugleich verloren wirken und sich das Ensemble entfalten kann.
Antigone (verkörpert durch eine etwas verzagte Marie Jung) agierte schon vor 2 000 Jahren eigensinnig und widerspenstig, etwa indem sie den Bruder, dessen Leichnam den Tieren zum Fraß vorgeworfen werden soll, kurzerhand selbst heimlich und ehrenvoll bestattet. Als sie erwischt und Kreon vorgeführt wird, hält sie diesem aufmüpfig und hoch erhobenen Hauptes entgegen: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!“ Antigone stellt eigensinnig ihre moralischen, aber eben darin überindividuellen Ansprüche gegen solche des Macht- und Staatsapparates; diese Haltung bietet reichlich aktuelle Reibungspunkte.
Nicht ohne Grund ist Antigone bis heute das meist gespielte Stück der griechischen Klassik. Brecht gestaltete sein „Antigonemodell“ als Aktion gegen die Unmenschlichkeit totalitärer Regime. Auch in der Hoffmann’schen Inszenierung am Grand Théâtre heißt es zu Beginn: „Hybris erzeugt den Tyrannen!“ Die Parallelen zu gesellschaftlichen und politischen Krisen und einem irrsinnigen in der Ukraine tobenden Krieg liegen auf der Hand. Wenn die Handlung von Ödipus einsetzt, befindet sich Theben zudem im Würgegriff einer ominösen Seuche – eine Form der Pest hat die Stadt befallen. Auch dies transportiert Willikens graues Bühnenbild. Glücklicherweise vertraut Hoffmann darauf, dass sich Parallelen in den Köpfen der Zuschauenden einstellen, und belässt den Hammer dort, wo er hingehört.
Auch den Chor auszulagern, erweist sich als gute Idee. So spricht er bisweilen aus den Zuschauerreihen: mal unterdrückt, mal agitierend (als Schergen am Bühnenrand) und wird damit pars pro toto. Annette Schlechter ist schrullig spielend ohnehin stets ein Gewinn.
Irgendwann ist der Krieg vorbei, und der Saal wird durchflutet von bunten Lichtkugeln.
Eine überdimensionale weiße Papiermaske dient als Zeitung, ein riesiger Mond geht im Hintergrund auf ... Es fehlt nicht an bunten Tupfern fürs Auge. Die ästhetisch gelungene Inszenierung trägt über zweieinhalb Stunden, dank starker Akzente und des kraftvoll-sinnlichen Schauspiels des Ensembles: zweifellos eine der bisher eindrucksvollsten Inszenierungen dieser Spielzeit.