Sechs Jahre nach seinem letzten Film The Other Side of Hope (2017) ist der finnische Regisseur Aki Kaurismäki mit Fallen Leaves zurückgekehrt. Mit The Old Oak ist Ken Loach ebenfalls mit einem neuen Film auf der Kinoleinwand vertreten. Beide sind entschiedene und unbeirrbare Repräsentanten eines proletarischen Kinos, das seine Wurzeln tief in der Geschichte des Filmes selbst hat – und bis zum Luxemburgischen Film reichen.
Die Darstellung der Arbeiterklasse im Film ist tatsächlich so alt, wie der Film selbst: La Sortie de l’usine Lumière à Lyon der Gebrüder Lumière aus dem Jahr 1895 ist eine der ersten dokumentarischen Aufnahmen, die in nur 45 Sekunden die Arbeiter nach Schichtende zeigt. Für den Film als Jahrmarktattraktion und Massenmedium war die Nähe zum Proletariat unerlässlich. Der Filmemacher, der dies vielleicht am ehesten verstand und die proletarische Sichtweise am stärksten in sich vereinte war Charlie Chaplin. Er begriff, dass das größte Publikum eines jeden Films die Arbeiterklasse ist, die nach einer Woche anstrengender, sich wiederholender Arbeit mit geringer Entlohnung eine eskapistische Fantasie suchte. Unweigerlich muss er einen Nerv getroffen haben, indem er sich mit seinem berühmten Leinwandimage als einer der ihren inszenierte. Man kann Chaplin nicht vorwerfen, aus der Gefühlswelt der kleinen Leute rückhaltlos Kapital geschlagen zu haben, der sozialistischen Ader seines Schaffens gar zuwiderlaufend. Er selbst entstammte einem industriellen Arbeitsmilieu – seine humorvolle aber aufrechte Hinwendung, sowie sein soziologisches Interesse am Proletariat hat dessen filmische Darstellungen über die Jahre hinweg nachdrücklich geprägt. Es ist wohl auch kein Zufall, dass beide Filme, The Old Oak und Fallen Leaves, ihren Helden einen Hund als stillen aber treuen Begleiter an die Seite stellen – deutlicher kann man den Bezug zu Chaplin nicht inszenieren. So überaus deutlich diese Bezugnahmen auf Chaplin für beide Filmemacher sind, so konträr präsentieren sich deren Filme. Loach und Kaurismäki formen jeweils unterschiedliche Blicke auf den Arbeiter aus.
Die Wurzeln von Ken Loachs Kino gehen auf seinen Erstlingsfilm Kes (1969) zurück, der Film, der noch die British New Wave mitgestaltete. In enger Zusammenarbeit mit seinem Drehbuchautor Paul Laverty hat Loach ein filmisches Triptychon geschaffen, das auf äußerst engagierte Weise die Ängste und Sorgen der Arbeiterklasse fokussiert. Loachs Blick ist der eines zuweilen latenten, ja fragwürdigen Paternalismus: Seinen Filmen ist eine spezifische, mitunter sonderbare Form der Betulichkeit inhärent, mit der er den Arbeiter beschaut, mal mehr mal weniger direkt. Er betrachtet den Arbeiter nicht aus sich selbst heraus, sondern von außen, nahezu von oben, registrierend und überschauend. Dies ist insofern zwingend, als er nur so seine linksgerichtete Systemkritik auf didaktische Weise applizieren kann. Ausgehend von den spezifischen Milieus und der jeweiligen lokalen Färbungen gibt er den Blick frei auf ein größeres Ganzes. Es geht immerzu um die Darstellung des Mahlwerks, in das die Menschen hineingeworfen werden. In Loachs I, Daniel Blake (2016) sind es die Mühlen der Staatsbürokratie, in denen Menschen zerbrochen werden – einmal hineingeraten, gibt es keinen Ausweg. In Sorry We Missed You (2019) zeigt Loach die ausbeuterischen Tendenzen der Großkonzerne auf, die sich im Einzelschicksal eines Lastwagenfahrers niederschlagen. In The Old Oak unternimmt er den Versuch, diese Probleme der Arbeiterklasse auf kulturell-ethnische Problemfelder auszuweiten, die Sozialmisere und den Antisemitismus in enger Verbindung sehend – immerzu ist sein Kamerablick einer der semidokumentarischen, stillen Beobachterinstanz. Eine Beobachterinstanz, die indes überaus affektbasiert ist, die Sentimentalität und Larmoyanz auch in sich miteinschließen kann, ja zuweilen agitatorisch und nahezu militant in der Gewinnung seines Publikums operiert. In allen Fällen aber steht damit bei Loach die Distanz als Prinzip zur Eröffnung größerer Diskursfelder – die jeweiligen Filmerzählungen weit übersteigend.
Anders verhält es sich bei Aki Kaurismäki: Der 66-jährige finnische Regisseur hat mit seiner Arbeiter-Trilogie Mitte der 1980-er Jahre internationale Anerkennung erfahren – die Filmkritiker und das große Publikum weltweit erhielten erstmals eine leise Ahnung davon, was es bedeuten kann, ein Arbeiter in Finnland zu sein. Seine Filme betrachten die Arbeiterviertel und die Industriegelände Helsinkis als einen hermetisch geschlossenen Kreislauf und die Arbeiter darin haben so viel an Persönlichkeit und Individualität eingebüßt, dass sie nur mehr den Maschinen ähneln, die sie bedienen: scheinbar emotionslos, mechanisch und steif. Kaurismäki wirft dabei einen sympathischen und in einigen Fällen auch komplizenhaften Blick auf seine Figuren, die von Fleischern, Müllmännern, Kassiererinnen, Bergleuten hin zu einem Arbeiter in einer Streichholzfabrik reichen. In der Filmreihe Shadows in Paradise (1986), Ariel (1988) und The Match Factory Girl (1990), die – nun um Fallen Leaves erweitert –, möglicherweise definitiv abgeschlossen ist, werden Kaurismäkis Protagonisten zu Verkörperungen einer oft übersehenen Bevölkerungsschicht Helsinkis. Feinfühlig, aber niemals sentimental erzählt Kaurismäki meist von der Annäherung zweier Menschen, die eigentlich keine Bestrebungen haben, auszubrechen oder sich selbst ernsthaft und eindringlich in den Blick zu nehmen. Es ist denn auch nicht die Durchführung einer stringenten linksgerichteten Systemkritik, die Kaurismäki anstrebt, eine, die eine Hierarchie aufdecken würde, die den Filmhelden einfach vorenthält, dass Wohlstand und Freiheit nicht für jeden gelten. Dass Kaurismäki soziale und wirtschaftliche Umstände nicht weiter in einer inneren Logik beschaut, ist nur konsequent, so sehr bilden seine Werke eigene genuine Filmuniversen aus, die Idee einer Märchenerzählung bekräftigend – seine Farbpalette und die Musik haben an diesem Effekt ohnehin einen erheblichen Anteil. Gerade das mit Nachdruck angedeutete Happy End aus Fallen Leaves steht als Direktverweis auf Chaplins Modern Times (1936) unter dem Zeichen der märchenhaften Rundung der Erzählung.
Kaurismäkis Blick ist einer der Identifikation und der verbundenen Aufrichtigkeit, eine Perspektive, die aufweist, wie nahe Lachen und Weinen beieinander liegen. In dieser tragikomischen Dimension belässt Kaurismäki den Figuren ihre Würde. Er bemüht sich darum, die Erlebniswelt seiner Helden aus dem Inneren heraus erfahrbar zu machen – diese auf Sympathie und Identifikation ausgerichtete Programmatik reicht so weit, dass Kaurismäki die Grenzen zwischen der Darstellung seiner Figuren und seinem eigenen öffentlichen Image aufgehoben hat. Überaus schweigsam, lakonisch in seinen seltenen Interviewgesprächen, sein Hang zum Alkoholismus – er inszeniert sich selbst als Teil seiner Filmwelt mit. In ihrer selbstreferenziellen Genügsamkeit weisen die Filme Kaurismäkis denn auch nur selten über sich selbst hinaus, es sind kaum Filme der politischen Botschaften, der größeren Sinnzusammenhänge.
Auffallend ist nun, dass beide Filmemacher mit ihren unterschiedlichen Ansichten, neben dem New British Cinema der Neunzigerjahre, zu den womöglich stärksten Bezugsquellen im Werk des luxemburgischen Regisseurs Andy Bausch wurden. Mit seinen Filmen wie Le Club des chômeurs (2001), der Fortsetzung La revanche (2004), Rusty Boys (2017) oder nun Little Duke (2023) hat er stets eine proletarische Lebenswirklichkeit in den Blick genommen: Seine Filme bilden wohl Reflexionen aus über die Gesellschaftsschichten, das soziologische Interesse an diesen und die wirtschaftliche Entwicklung im Großherzogtum – unter diesem Aspekt sind sie dem Ansatz von Ken Loach nicht unähnlich – ohne dabei aber an einer tatsächlichen links-intellektuellen sozialrealistischen Agenda interessiert zu sein. Dafür ist seine Nähe zum Genre der Feel-Good-Komödie zu groß: Bausch entwickelt damit ein Moment, das die andere Bezugsquelle, Aki Kaurismäki, ansichtig werden lässt – mit der überaus großen Sympathie für Loser-Typen, die das Herz am rechten Fleck haben.