Braucht die Mittelschicht den Sozialstaat?

Grundversorgung oder Umverteilung

d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2012

Die Union des entreprises luxembourgeoises (UEL), die Vereinigung der Unternehmerverbände, nutzte auch dieses Jahr ihren Neujahrsempfang, um Mitglieder, Politiker und Presse nicht nur mit Sekt und Lachshäppchen zu versorgen, sondern auch mit Powerpoint-Losungen, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen. Das Luxemburger Wirtschafts- und Sozialmodell sei in Gefahr, warnte UEL-Vorsitzender und Arcelor-Mittal-Generaldirektor Michel Wurth vergangene Woche die Kollegen von Industrie, Banken und Handwerk im Untergeschoss der Handelskammer. Denn die Wachstumsrate und die Wettbewerbsfähigkeit sänken, die Staatsschuld und die Arbeitslosigkeit stiegen.

Die Schuld für diese zunehmenden Ungleichgewichte sieht die UEL zu einem großen Teil beim Sozialstaat. Der Sozialschutz in Luxemburg sei einzigartig in der Welt, der gesetzliche Mindestlohn, die Renten, die Fami[-]lienzulagen, die Studienbörsen und die Rückerstattung der Gesundheitskosten seien viel höher als in irgendeinem anderen europäischen Land.

Für die UEL ist der Sozialstaat aber nicht nur zu teuer im Vergleich zur Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, sondern auch im Vergleich zu seiner Effizienz. Denn trotz der hohen So[-]zialausgaben gelinge es nicht, die Armut einzudämmen, blieben die Bildung und Ausbildung der Jugendlichen unterdurchschnittlich im Vergleich zu den überdurchschnittlichen Prokopf-Ausgaben je Schüler, habe die Arbeitslosigkeit in den zurückliegenden 15 Jahren um 200 Prozent zugenommen, obwohl 66 Prozent zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden seien.

Da hierzulande aber Wahlen um den Inflationsausgleich und die Altersversicherung entschieden werden, der Sozialstaat überhaupt die wichtigste politische Legitimation des Staats oder zumindest des Steuerstaats darstellt, weist der Unterneh[-]merdachverband alle Vorwürfe weit von sich, er wolle den Sozialstaat abschaffen. Um ihr gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein zu unterstreichen und nicht als die herzlosen Unholde zu erscheinen, als die sie von manchen Gewerkschaften und Linksparteien dargestellt werden, machen die Unternehmer sogar demonstrativ Vorschläge zur Bekämpfung der Armut. Auch wenn diese nur indirekte Auswirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Betriebe hat.

Überhaupt sehen sich die Unternehmer sogar als die einzigen aufrichtigen Verteidiger des Sozialstaats. Denn um den unbezahlbar werdenden Sozialstaat zu erhalten, sei es nötig, ihn zu reformieren. Dazu sei nun der rechte Zeitpunkt, da die Regierung die Indexfrage bis zu den nächsten Wahlen entschieden habe, meint die UEL. Und sie ist realistisch genug, die allgemeine Desindexierung der Volkswirtschaft nicht weiter zu verlangen, sondern lediglich das „Studieren“ dieser Frage bis Juni 2014.

CSV und LSAP lehnen eine allgemeine Desindexierung ab, doch – anders als die LSAP – befürwortet die CSV eine „Deckelung“ der Indexanpassungen auf einem Einkommensanteil bis zum Gegenwert des anderthalben Mindestlohns. Nämlich im Zeichen einer selektiven Sozialpolitik.

Denn das Mittel zum Erhalt des So[-]zialstaats heißt nicht nur für den Unternehmerdachverband „selektive Sozialpolitik“. Sie steht so bereits im Koalitionsabkommen. Auch wenn CSV und LSAP während der Koali[-]tionsverhandlungen nicht immer einig darüber waren, was darunter zu verstehen sei. Im politischen Alltag wird selektive Sozialpolitik nämlich vorwiegend negativ definiert: als Gegenteil des „Gießkannenprinzips“, bei dem sozialstaatliche Leistungen unabhängig von den tatsächlichen Bedürfnissen und den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Nutznießer verteilt werden. Dabei funktionieren wichtige Teile des Sozialstaats, wie die von der CSV so leidenschaftlich gepflegte Familienpolitik, ausdrücklich nach dem Gießkannenprinzip – auch wenn es in dem Fall als „horizontale Umverteilung“ theoretisiert wird.

Deshalb wirbt die Handelskammer spätestens seit ihrem Haushaltsgutachten von 2010 dafür, familienpolitische Sozialleistungen jenen Haushalten vorzubehalten, die nicht mehr als das mittlere Einkommen verdienen. Also die Hälfte der Haushalte von solchen Transfers auszuschließen. So schlägt sie vor, das Kindergeld, die Hausfrauen im Rentenalter gewährte Mammerent und das als Gegenstück zum Elternurlaub gewährte Erziehungsgeld auf jene Haushalte zu beschränken, die nicht mehr als das mittlere Einkommen verdienen. Dadurch würde der Staat jährlich um die 85 Millionen Euro sparen.

Laut dem vor drei Monaten vom Statec veröffentlichten Rapport travail et cohésion sociale 2011 liegt das mittlere Einkommen pro Erwachsenen einschließlich Sozialtransfers bei 2 753 Euro. Das mittlere Einkommen ist deutlich niedriger als das Durchschnittseinkommen von 3112 Euro, welches von einer geringen Anzahl sehr hoher Einkommen beeinflusst wird. Da die Europäische Union die Armutsgrenze auf 60 Prozent des mittleren Einkommens festgelegt hat, bedeutet der Vorschlag der Handelskammer, die genannten Sozialtransfers auf jene zu beschränken, deren Einkommen bis zu 40 Prozent über der Armutsgrenze liegen. Laut Rapport travail et cohésion sociale 2011 wären 2010 aber ohne Sozialtransfers doppelt und ohne Renten dreimal so viele Haushalte dem Armutsrisiko ausgesetzt gewesen wie die errechneten 15 Prozent.

Deshalb wollen die Unternehmer die sozialstaatlichen Leistungen auf eine Grundversorgung beschränken, die vor allem das Armutsrisiko abwenden soll. Das gilt auch für die Vorschläge zur langfristigen Absicherung der Rentenversicherung. Während eines Pressegesprächs am10. Januar schlug die UEL vor, mit selektiven Sozialtransfers „das Phänomen der Hungerrenten“ abzu[-]schwächen“. Gleichzeitig plädierte Marc Lauer, Vizepräsident der Versicherungsvereinigung ACA, dafür, dass es Beziehern mittlerer und höherer Einkommen überlassen werden soll, sich privat zusatzzuversichern, um im Ruhestand über ein höheres Einkommen zu verfügen.

Aber das mittlere Einkommen ist nur ein Schwellenwert für selektive So[-]zial[-]politik. Als Ausgleich für die von der Regierung beschlossene Indexmanipulation versprach Premier Jean-Claude Juncker Mitte Dezember Büchergutscheine für jene Familien, deren Einkommen sich auf dem Niveau des garantierten Mindesteinkommens beschränkt. OGBL-Präsident Jean-Claude Reding nannte das am Dienstag nach einer Sitzung seines Nationalvorstands keine So[-]zialpolitik, sondern Armenhilfe.

Doch schon durch eine Beschränkung von Sozialleistungen auf jene Bevölkerungshälfte mit den niedrigsten Einkommen, kämen vor allem Arbeiter mit einem mittleren Einkommen von 2 133 Euro und Angestellte mit einem mittleren Einkommen von 2 546 Euro in deren Genuss. Ausgeschlossen blieben ein Teil der Angestellten und Techniker am Finanzplatz und in Verwaltungen sowie gleichrangige Gesundheits- und Sozialberufe. Das heißt, ein wesentlicher Teil der Mittelschicht würde von Sozialtransfers ausgeschlossen. Es ist leicht vorstellbar, wie er beispielsweise auf ein Phasing out des Kindergelds reagieren würde. Was politisch um so heikler ist, als die Mittelschicht die Kernwählerschaft fast aller Parteien darstellt. Bei den Wahlen 2009 hatte sich die DP sogar explizit zur Fürsprecherin der Mittelschicht gemacht.

Deshalb zog die Regierung es bisher vor, die selektive Sozialpolitik nicht nach sozialen, sondern nach nationalen Kriterien zu betreiben, indem sie Dienstleistungsschecks und Stu[-]dienbeihilfen einführte, von denen die Grenzpendler ausgeschlossen bleiben. Und selbst den Forderungen der UEL, den gesetzlichen Mindestlohn zu senken, um ihn an die niedrige Produktivität der wenig qualifizierten Mindestlohnbezieher anzupassen, begegnet sie lieber mit Zuschüssen, wie die 2010 versprochenen Zuwendungen an die Unternehmermutualität und nun der Übernahme des über dem gesetzlichen Mindestlohn liegenden Lohnanteils von eingeschriebenen Arbeitsuchenden.

Denn im Kern geht es um die Frage nach der Zweckbestimmung des Sozialstaats im 21. Jahrhundert: Soll er, wie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Grundbedürfnisse absichern, indem er den Armen und jenen hilft, die durch Krankheit, Unfall oder Alter keiner Erwerbsarbeit nachgehen können und so von Armut bedroht sind? Oder soll er, wie während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einen Teil des nationalen Reichtums mittels Steuern und Sozialbeiträgen eintreiben und über soziale Transfers und Dienstleistungen innerhalb fast der ganzen Gesellschaft umverteilen?

Finanzminister Luc Frieden rechnete bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs für das laufende Jahr vor, dass 35 Prozent aller Staatsausgaben Sozialausgaben – Sozialbeiträge und Transfers an die Haushalte – seien. Diesen 3,8 Milliarden Euro stehen 1,6 Milliarden Einnahmen aus der Körperschaftssteuer der Betriebe gegenüber. Ein Sozialstaat, der sich im globalen Konkurrenzkampf der Produktionsstandorte wieder auf die Absicherung der Grundbedürfnisse beschränkt und auf seine Umverteilungsfunk[-]tion verzichtet, würde also gewaltige Summen freistellen – und umverteilen.

Romain Hilgert
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