Vielleicht scheiterte die große Verfassungsrevision nicht bloß an der Sabotage durch die CSV und am kleinlichen Parteienstreit

New Constitutionalism

d'Lëtzebuerger Land du 29.11.2019

Am Dienstagnachmittag begruben DP, LSAP, Grüne und CSV die neue Verfassung, die sie seit 2009 mit großem Pathos als Jahrhundertwerk versprochen hatten. Das „moderne Grundgesetz für das 21. Jahrhundert“ sollte erstmals in der Geschichte durch eine Volksbefragung legitimiert werden. Seit 1984 wurde an einer großen Revi­sion geplant, vor zehn Jahren wurde der Text­entwurf im Parlament hinterlegt, seither tagte der Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision mehr als 150 Mal. Drei Dutzend Gutachten und Änderungsanträge zu einem der umfangreichsten gesetzgeberischen Unternehmen in der Landesgeschichte wurden abgegeben. Bis am 20. Juni vergangenen Jahres die Berichterstatter Alex Bodry (LSAP), Simone Beissel (DP), Sam Tanson (Grüne) und Léon Gloden (CSV) als „Schlusspunkt“ ihrer langen Arbeit den gemeinsamen Ausschussbericht mit den 132 abstimmungsreifen Artikeln vorgelegt hatten.

Doch Artikel 114 der heutigen Verfassung schreibt vor, dass für jede Verfassungsänderung das Einverständnis von zwei Dritteln der Abgeordneten notwendig ist, also ein Konsens von Mehrheits- und Oppositionsabgeordneten gefunden werden muss. Die CSV, die ein Jahrhundert lang glaubte, einen gottgegebenen Anspruch auf die Führung des CSV-Staats zu haben, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass dieser Staat eine neue Verfassung erhält, wenn sie ihn nicht führt. Deshalb hatte sie schon während der vorigen Legislaturperiode eine Abstimmung samt Referendum vereitelt. Nach ihrer erneuten Wahlniederlage hatte sie Anfang Juli unter allerlei Vorwänden und Bedingungen angekündigt, auch während der laufenden Legislaturperiode das Inkrafttreten einer neuen Verfassung zu verhindern. Durch den dritten Restsitz im Norden hatte sie ihre Sperrminorität bei Verfassungsänderungen retten können, der neue Präsident Frank Engel fand, dass die CSV aufhören sollte, staatstragend zu sein, da sie keinen Staaten mehr zu tragen habe.

Doch auch die Mehrheitsparteien haben das Ihre zum Bruch der nationalen Verfassungskoalition beigetragen. Im März 2015 hatten sie die Proposition de révision portant modification et nouvel ordonnancement de la Constitution in Proposition de révision portant instauration d’une nouvelle Constitution umbenannt. So sollte klargestellt werden, dass nur eine neue Verfassung durch ein von allen Parteien versprochenes Referendum legitimiert werden soll, nicht aber jede künftige Teilrevision. Die CSV verdächtigte jedoch den neuen Ausschussvorsitzenden Alex Bodry, sich auf diese Weise auch die Verdienste seines CSV-Vorgängers Paul-Henri Meyers um die Verfassungsänderung aneignen zu wollen. Vor allem aber hatten DP, LSAP und Grüne mit dem Referendum von 2015 versucht, sich bei den Wählern das Einverständnis zu Änderungen am Wahlrecht einzuholen, für das die CSV ihnen eine Zweidrittelmehrheit verweigerte. Zudem betonte die Mehrheit zwar, die CSV könne den vergangenes Jahr gutgeheißenen Textentwurf nicht wieder „aufschnüren“, aber gleichzeitig bat sie die Parteien um Vorschläge für im Koalitionsabkommen vorgesehene Änderungen am Wahlrecht.

Alex Bodry einigte sich nun außerhalb des parlamentarischen Ausschusses mit der CSV und mit dem Segen von DP und Grünen darauf, statt einer neuen Verfassung nach und nach ausgewählte Artikel zu stimmen. Diese Einigung geschah außerhalb des Verfassungsausschusses; die offenbar als nicht staatstragend angesehenen ADR, Linke und Piraten waren nicht gefragt worden.

Binnen zwei Jahren sollen 29 unumstrittene Bestimmungen vor allem zu den bürgerlichen Rechten, dem Großherzog, dem Parlament, den Regierungsmitgliedern und einem Justizrat aus dem Entwurf der neuen Verfassung herausgepickt und von DP, LSAP, Grünen und CSV verabschiedet werden. In anderen Punkten scheint die CSV Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben. Weil statt einer neuen Verfassung nur eine Revision der alten beschlossen wurde, hofft man, an dem in allen Wahlprogrammen versprochenen Referendum samt großer Bürgerbefragung vorbeizukommen. Denn nach den Erfahrungen von 1937, 2005 und 2015 wäre es im derzeitigen politischen Klima durchaus vorstellbar, dass eine neue Verfassung bei einem Referendum an einer spontanen Koalition von Tierschützern, Monarchisten, Sprachsäuberern und Regierungsgegnern scheitert. Ein Referendum ist dennoch nicht ausgeschlossen, denn laut Artikel 114 sind 16 Abgeordnete oder 25 000 Wählerunterschriften nötig, um ein Referendum zu erzwingen. Auch wenn Mehrheit und CSV in den nächsten Monaten mehr als einmal darüber streiten dürften, wer die Schuld am Scheitern der neuen Verfassung trägt, dürften sie doch dankbar sein, dass der Schuldiggesprochene sich geopfert hat, um das von ihnen befürchtete Referendum zu verhindern.

Aber nicht nur die Zeit der Referenden scheint zu Ende zu gehen. Vielleicht wurde so lange an der neuen Verfassung gearbeitet, dass sie schon bei ihrem Inkrafttreten überholt gewesen wäre. Die derzeitige Verfassung ist ein Relikt aus dem autoritären Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts, das nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht und deshalb von den Regierungen so wörtlich oder metaphorisch ausgelegt werden konnte, wie es ihnen politisch gerade in den Kram passte. Diese Exegese ist aber kaum noch haltbar, seit ein Verfassungsgericht, internationale Institutionen und internationale Investoren die Rechtssicherheit einer wortgetreuen Lesart verlangen. Deshalb soll die Verfassung „modernisiert“ werden: Die Vorrechte des Großherzogs sollen drastisch beschnitten, das Justizwesen soll rationalisiert, die Gewaltentrennung vertieft und das Ganze mit der Gewährung demokratischer Garantien und von Rechten der dritten Generation wie Umweltschutz und Kinderrechte als Staatsauftrag legitimiert werden.

Doch schon zehn Jahre bevor Paul-Henri ­Meyers seinen Revisionsentwurf hinterlegte, veröffentlichte der englische Politikwissenschaftler ­Stephen Gill 1998 einen Aufsatz, in dem er den seither viel zitierten Begriff vom New Constitu­tionalism prägte (New Political Economy, 3. Jg, H. 1). Ziel des New Constitutionalism sei es, auf nationaler wie auf europäischer Ebene „to separate economic policies from broad political accountability in order to make governments more responsive to the discipline of market forces and correspondingly less responsive to popular-­democratic forces and processes“.

Zu diesem Zweck verabschiedete das Parlament 2014 in „verfassungsähnlichem Rang“ das Gesetz über die Koordinierung und die Verwaltung der öffentlichen Finanzen, um die wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen auto­matischen Prozeduren und anonymen EU-Experten zu überlassen. Zudem hatte es nicht auf die neue Verfassung gewartet, um schon vor zwei Jahren den Notstandsartikel 32 zur Aufhebung der Gewaltentrennung auf Krisen aller Art auszuweiten. Wenn die Konsensfindung zum Kostenfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit wird, verlangt eine Verfassung für das 21. Jahrhundert ganz neue Maßstäbe.

Romain Hilgert
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