Um das peinliche Malheur des Referendums von 2015 nicht zu wiederholen, sollte gleich nach den Europawahlen die öffentliche Kampagne beginnen, mit der die Wähler von den Vorzügen der geplanten großen Verfassungsrevision überzeugt werden sollen. Denn schon vor Jahren hatten alle Parteien versprochen, dass eine Gesamtrevision der Verfassung erstmals durch eine Volksbefragung legitimiert werden soll. Und auch jene Parteien, die inzwischen Angst vor der eigenen Courage bekommen haben, fanden noch keinen überzeugenden Weg, um an dem Referendum vorbeizukommen, umso mehr, als auch 15 Oppositionsabgeordnete oder 25 000 Wahlberechtigte ein Referendum erzwingen können. Die Europawahlen sind nun zwei Wochen her, aber der Start der Kampagne soll um ein weiteres halbes Jahr aufgeschoben werden.
Tatsächlich scheint es nicht mehr auf einige Monate anzukommen. Denn an der Revision wird seit 35 Jahren geplant, sie wird seit 15 Jahren redigiert und liegt seit zehn Jahren als Entwurf vor, an dem sich der zuständige parlamentarische Ausschuss, der Staatsrat, die Regierung, der großherzogliche Hof, die Justiz, die Berufskammern, der Gemeindeverband und andere Vereinigungen abarbeiten. Der Text ist ein Kompromiss zwischen den größten im Parlament vertretenen Parteien, die sich prinzipiell einig über ein Bedürfnis nach einer „modernen Verfassung“ sind, einem präzisen, liberalen und international wettbewerbsfähigen Regelwerk statt einem nach politischem Gutdünken exegierbaren Grundgesetz aus dem Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts.
Als parteipolitischer Kompromiss hängt das Schicksal der Revision von parteipolitischen Unwägbarkeiten ab. Die CSV, die die Konstitution stets als Hausordnung des CSV-Staats ansah, verhinderte während der vorigen Legislaturperiode das Verfassungsreferendum in der Hoffnung, nach der Rückkehr an die Macht den politischen Profit eines erfolgreichen Referendums einstreichen zu können. Doch nach den Wahlen vom Oktober vergangenen Jahres blieb sie wider Erwarten für eine weitere Legislaturperiode in der Opposition, konnte aber mit einem dritten Restsitz im Nordbezirk ihre Sperrminorität bei der Verabschiedung der Revision in erster Lesung im Parlament behalten. Die Wahl ihres neuen Vorsitzenden und nun das Debakel bei den Europawahlen zeigt jedoch, dass die Krise der CSV wie bei der CDU in Deutschland und den Républicains in Frankreich ein Dauerzustand zu werden droht. So dass sich auch jene in der Partei durchsetzen könnten, die eine aggressive Oppositionspolitik verlangen und DP, LSAP und Grünen kein erfolgreiches Verfassungsreferendum gönnen wollen.
Derzeit bereitet der parlamentarische Ausschuss der Institutionen und der Verfassungsrevision neue Änderungsanträge auf der Grundlage des Gutachtens der Venedig-Kommission für Demokratie durch Recht des Europarats vor, einer Kommission, die nach dem Ende des Kalten Kriegs vor allem den mittel- und osteuropäischen Staaten gutes Benehmen nach den Regeln von Gewaltentrennung und Marktwirtschaft beibringen sollte. Wenn dann der Staatsrat diese Anträge mit einem vierten Zusatzgutachten kommentiert hat, kommt das Parlament kaum noch daran vorbei, den Text in erster Lesung zu verabschieden, während die alten und die in der vorigen Legislaturperiode neu geschaffenen Appareils idéologiques de l’État, anders als 2015, aus allen Rohren feuern sollen, um mit Faltblättern, Internetwerbung und Podiumsdiskussionen auch die verbissensten Tier- und Sprachschützer vom Nutzen des neuen Verfassungsentwurfs zu überzeugen. Das Referendum müsste dann vor dem „Superwahljahr“ 2023 stattfinden.