Etwas einsam wirkten sie schon, CSV-Präsident Frank Engel und der Grevenmacher Bürgermeister Léon Gloden, als sie am Dienstag in der Parteizentrale vor die spärlich versammelte Presse traten und erklärten, dass die CSV die als Jahrhundertwerk angekündigte Verfassungsrevision weiterhin nicht stimmen will. So als ob die anderen Spitzen von Partei und Fraktion, die prominenteren christlich-sozialen Mitglieder des parlamentarischen Ausschusses der Institutionen, Martine Hansen, Gilles Roth, Claude Wiseler und Michel Wolter, den Verrat liebten, sich aber nicht mit Verrätern blicken lassen wollten.
Die Verfassung war so etwas wie die Hausordnung des CSV-Staats, und die ewigen CSV-Vorsitzenden des parlamentarischen Ausschusses der Institutionen und Verfassungsrevision waren so etwas wie deren Hausmeister. Die CSV habe sich, so Frank Engel am Dienstag, „schon mit der Verfassung beschäftigt, als andere Parteien, die heute im Parlament sitzen, noch nicht existierten beziehungsweise nicht in dieser Form“.
Die Verfassung war auch ein Relikt aus dem Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts, so dass sich ihre Bestimmungen schon lange nicht mehr mit dem deckten, was der für solche Unterscheidungen hellhörige Nazi-Jurist Carl Schmitt „Verfassungswirklichkeit“ taufte. Das war kein aus Vergesslichkeit entstandener Nachteil, sondern für die christlich-sozialen Regierungschefs ein großer Vorteil, erlaubte er es ihnen doch, die Verfassung so zu exegieren, wie es ihnen jeweils politisch in den Kram passte.
Doch dann kamen das Verfassungsgericht, Beobachter der Vereinten Nationen und des Europaparts, die alle die Verfassung so wortgetreu auslegen wollten wie die Zeugen Jehowas die Bibel. Deshalb wurde es plötzlich nötig, die Verfassung zu „modernisieren“, und so begannen vor 35 Jahren einige CSV-, LSAP- und DP-Rechtsanwälte im Parlament, eine neue Verfassung auszuhandeln, seit 15 Jahren schreiben sie daran und hinterlegten vor zehn Jahren den ersten Textentwurf. Weil eine Verfassungsrevision eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verlangt, muss sie ein Kompromiss zwischen Regierung und Opposition sein, was so lange möglich war, als DP und LSAP als treue Mehrheitsbeschaffer für die CSV in der Opposition waren.
Als die CSV sich aber nach 2013 in der Opposition wiederfand, versuchten DP, LSAP und Grüne, die Sperrminorität der CSV mit dem Referendum von 2015 zu umgehen. Der frisch gekürte Spitzenkandidat der CSV, Claude Wiseler, kündigte im Oktober 2016 gleich an, die Revision nicht in erster Lesung stimmen zu wollen. Die Hausordnung des CSV-Staats sollte erst nach den Wahlen geändert werden, wenn die CSV ihn wieder regierte.
Doch nun findet sich die CSV unverhofft eine weitere Legislaturperiode lang in der Opposition wieder und es stellte sich ihr die Frage, wie sie eine zweite Legislaturperiode lang die Verfassungsrevision verhindern kann. Um so mehr als nicht nur ein Teil der christlich-sozialen Apparatschiks die erneute Wahlniederlage darauf zurückführte, dass die CSV nicht aggressiv genug Oppositionspolitik mache. Auch eine Mehrheit der konservativen Parteibasis entschied sich Anfang des Jahres mit Frank Engel für einen Parteivorsitzenden, der seine Partei aufgerufen hatte, nicht mehr länger staatstragend zu sein, weil inzwischen andere den Staat trügen.
Mit 21 Mandaten hatte der dritte Restsitz im Norden die Sperrminorität der CSV bei der für eine Verfassungsrevision nötigen Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten gerettet. Nach der erneuten Niederlage bei den Europawahlen galt es also nur noch, einen geeigneten Vorwand zu finden, um sich zum zweiten Mal aus dem seit Jahrzehnten gepflegten staatstragenden Konsens von CSV, LSAP, DP und neuerdings auch Grünen zur Verfassungsrevision zu verabschieden.
Der willkommene Anlass für die CSV ist ein Brief, den Premier Xavier Bettel (DP) im Februar an die Parteien geschickt hatte. Darin wollte er ihre Meinung zu einer im Koalitionsabkommen angekündigten Wahlrechtsreform einholen. Darauf hatten sich die Parteien schon vor Jahren bei den Diskussionen über die Verfassungsrevision nicht einigen können. Weil unter anderem die LSAP die Einführung eines einzigen Wahlbezirks mit einem Zweitstimmensystem wie in Deutschland und die Einschränkung des Panaschierens vorschlug sowie die Häufung nationaler und kommunaler Mandate beenden will, und dies auch verfassungsrechtlichen Bestimmungen unterliegt, zeigt das für Léon Gloden, dass „der Verfassungstext noch nicht abgeschlossen ist“ – auch wenn er selbst ihn am 20. Juni vergangenen Jahres zusammen mit Alex Bodry, Simone Beissel und Sam Tanson als „point final aux réflexions“ vorgestellt hatte.
„Weil nicht alle Fragen geklärt sind“, so Frank Engel, solle man also „zuerst mit den Leuten ins Gespräch kommen“. Während der bereits im Februar von der CSV in der Präsidentenkonferenz des Parlaments und dem Verfassungsausschuss mitbeschlossenen Informations- und Konsultationskampagne will die CSV über die Vorschläge zur Reform des Wahlsystems beraten. Wobei sie selbst nicht einig scheint: Eine Mehrheit will an den vier Wahlbezirken festhalten, weil die Restsitzberechnung in den konservativen Landbezirken von Vorteil für die CSV ist. Der vom heutigen Parteivorsitzenden Frank Engel geleitete Cercle Joseph Bech erwog dagegen schon 2005 einen landesweiten Wahlbezirk.
Entsprechend den Publikumsreaktionen während der Konsultationskampagne soll dann laut Frank Engel „eine Liste Fragen“ aufgestellt und in einem Referendum zur Abstimmung gebracht werden. Gemäß den Ergebnissen dieses Referendums soll dann der endgültige Text des Verfassungsvorschlags niedergeschrieben und in erster Lesung vom Parlament verabschiedet werden.
Das entspricht präzise der Prozedur, die DP, LSAP und Grüne bereits 2015 mit dem Referendum über das Ausländerwahlrecht, die Amtszeit der Minister und das Wahlalter verfolgt hatten. Nur dass damals alle Vorschläge von den Wählern abgelehnt worden waren, so dass keine Änderungen am Verfassungsentwurf vorgenommen werden mussten.
Das Wahlprogram der CSV vom vergangenen Jahr sah schon die weitgehend unbeachtete Möglichkeit vor, den mühsam ausgehandelten Revisionsentwurf wieder aufzuschnüren: „Vor dem ersten verfassungsrechtlichen Votum wird der Verfassungstext in regionalen Diskussionsrunden mit den Bürgern erörtert und durchdiskutiert. Sollten sich wichtige Erkenntnisse für den Verfassungstext ergeben, werden diese ihren Niederschlag im Verfassungstext finden.“ Aber danach sollte „die Abgeordnetenkammer das erste verfassungsrechtliche Votum in Angriff nehmen. Dieser Text wird danach den Bürgern in einer Volksbefragung (Referendum) vorgelegt und wird das zweite verfassungsrechtliche Votum ersetzen“.
Das gilt nun nicht mehr. Am Dienstag meinte Präsident Engel zum versprochenen Referendum nach Artikel 114 als Ersatz für eine zweite Lesung: Das „kann man machen, muss man aber nicht machen“. Stattdessen soll vor der Revision ein Referendum nach Artikel 51 organisiert werden, um die Wähler zu befragen, wie viele Wahlbezirke, wie viel Panaschieren, wie viel Ämterkumul sie wollen. „Wenn das getan ist, genügt es eigentlich, dass das Parlament die Verfassung stimmt.“
Gehen die Mehrheitsparteien nicht auf die CSV-Forderungen ein, so Frank Engel, „dann macht es für uns keinen Sinn, über die Verfassung abzustimmen. Beziehungsweise dann werden wir über die Verfassung abstimmen lassen, aber dann stimmen wir nicht dafür“. Dann „kommt die Verfassung nicht voran, weil sie nicht fertig ist“. Der CSV-Präsident, der mangels Parlamentsmandat nicht über die Revision abstimmen kann, entschied endgültig: „Wir wollen, dass es so stattfindet. Denn nur so macht es Sinn. Alles andere ist Makulatur.“
Die Mehrheitsparteien zeigten sich erst einmal empört, das heißt ratlos. Der parlamentarische Ausschusspräsident Alex Bodry (LSAP) schrieb auf Twitter: „D’CSV stellt en Ultimatum zur Verfassungsreform. Dat ass e Broch mat der konsensueller Aarbechsweis vun der Chamber an deser Fro. Et ass och e Broch mam eegenen CSV Wahlprogramm vun 2018. Ech zweifelen drun, op si nach zum gemeinsamen Text stinn. Konfrontatioun ass hei Gëft!“
Die CSV will nicht länger staatstragend sein, sondern energisch in Opposition zur liberalen Koalition treten. Vielleicht träumt sie auch bloß davon, das für die Regierung desaströse Referendum von 2015 zu wiederholen. Aber manchen Mehrheitspolitikern dürfte die Vorstellung, an dem versprochenen Referendum als Ersatz für eine zweite Lesung vorbeizukommen, nicht einmal unsympathisch sein. Denn sie befürchten seit längerem, dass die Ablehnung durch Tierschützer, Monarchisten, Sprachpfleger und Regierungsgegner sich zu einer spontanen Mehrheit summiert, an der die ganze Revision scheitern könnte.