73. Internationale Filmfestspiele Berlin

Neue Fragen der Perspektive

d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2023

Hollywood lauschte gespannt den Zahlen, als Netflix Ende Januar seine letzten Quartalszahlen des abgelaufenen Jahres veröffentlichte: Die Zeichen stehen auf verlangsamtes Wachstum. So stieg der Umsatz nur noch leicht und auch die Zahl der Neukunden legte verhalten zu. Im Netflix-Maßstab. Im Winterquartal 2022 gewann der Streaming-Anbieter 7,66 Millionen neue zahlende Abonnenten hinzu. Im ganzen Jahr erwirtschaftete Netflix einen Umsatz von 31,6 Milliarden US-Dollar, das etwa 29,5 Milliarden Euro entspricht. Schnöde Zahlen. Doch die Plattform muss reagieren, um ihre Investoren zufriedenzustellen. Inhalte, sprich eigenproduzierte Fernsehserien, die nicht funktionieren, werden umgehend eingestampft, egal, wie hoch der künstlerische Anspruch war und welch wegweisende Erzähltechnik dem TV-Werk zu Grunde lag. Vor Jahren noch wurde der Streamingdienst als der große Heilsbringer auf jedwedem internationalen Filmfestival gepriesen. Ein Ruhm, der schnell verblasste. Also beginnt die Rückbesinnung auf Filmkunst und Filmwerke.

So auch in Berlin. Vor Jahren hat man noch eigens eine Sektion für Fernsehserien eingerichtet, die es nun noch gibt, aber nicht mehr so recht ins Programm zu passen scheint. Mariette Rissenbeck, Geschäftsführerin der Berlinale, und Carlo Chatrian, künstlerischer Direktor der Berliner Festspiele, drucksen bei der Programmpräsentation Anfang des Monats herum, weichen aus, betonen immer wieder, was denn die Berlinale eigentlich und ursächlich ausmache. Und das ist in der Zwischenwelt angekommen, nach dem Abschied des langjährigen Festivaldirektors Dieter Kosslick und auch nach zwei Pandemie-Ausgaben. Doch Berlin bleibt sich treu: Die ganz großen und glamourösen Namen vermisst man einmal mehr. Entsprechende Filme werden in die Wettbewerbsreihe „Gala“ abgeschoben, wo sie nur noch sich selbst feiern können. Chatrian geht stattdessen weiter seinen eingeschlagenen Weg, die Berlinale mit künstlerischen Beiträgen im Sinne von Pasolinis „Cinema of Poetry“ im Wettbewerb des internationalen Filmfestivals etablieren zu wollen. „Wir begreifen Kino als Katalysator, als etwas Revolutionäres, das verbindet, gerade da, wo Meinungen auseinander gehen. Daran haben wir uns bei der Zusammenstellung des Programms orientiert“, erklärt er in der Pressemappe zum Filmfestival.

Dieser Weg kann dahin führen, dass die Berlinale ihre Bedeutung als eines der drei großen Filmfestivals endgültig einbüßt. Dazu trägt auch bei, dass im aktuellen Wettbewerb Filme gezeigt werden, die bereits andernorts ihre Premiere feierten, so Makoto Chinkais Animationsfilm Suzume, der bereits in Japan angelaufen ist, oder Celine Songs Melodram Past Live, das vor wenigen Wochen beim Sundance Film Festival Premiere feierte. Im Ergebnis entwickelt sich die Berlinale zu einem Familienfest oder einem Liebhaber-Festival, bei dem Filmschaffende eine große Bühne bekommen, die einen Ruf genießen, aber nicht zur ersten Garde gehören oder für Kassenknüller stehen. Das hat seine Berechtigung. Im diesjährigen Wettbewerb gehören Matt Johnson, Ivan Sen, John Trengove oder Philippe Garrel schon zu den größeren Namen im 18 Filme umfassenden Line-Up. Mit 20.000 Species of Bees von Estibaliz Urresola Solaguren, Disco Boy von Giacomo Abbruzzese und Past Lives von Celine Song bemühen sich gleich drei Filmdebüts um den Goldenen Bären.

Auffällig am diesjährigen Wettbewerb ist die starke deutsche Präsenz. Gleich fünf deutsche Beiträge konkurrieren um die Bären. Am meisten erwartet wird dabei Margarethe von Trottas Film Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste – eine luxemburgische Koproduktion. Der Film widmet sich der Beziehung zwischen der österreichischen Schriftstellerin, gespielt von Vicky Krieps, und Max Frisch (Ronald Zehrfeld). Spannend daran wird sein, wie von Trotta diese Beziehung filmisch einfängt. Den Briefwechsel zwischen Bachmann und Frisch, der gerade erschienen ist, konnten die Filmemacherin und ihr Team dafür nicht einsehen. Ebenso vertreten ist die Fortsetzung von Christian Petzolds Filmtrilogie, die mit Undine begann. In Roter Himmel wird erneut Paula Beer, die einst für ihre Rolle in Undine den Silbernen Bären für die beste weibliche Hauptrolle erhielt, auftauchen. Außerdem laufen im Wettbewerb der neue Film von Christoph Hochhäusler, Bis ans Ende der Nacht, Angela Schanelecs Ödipus-Geschichte Music und Emily Atefs Literaturverfilmung Irgendwann werden wir uns alles erzählen, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Daniela Krien.

Chatrian setzt eher auf besondere Akzente, etwa wenn der portugiesische Regisseur João Canijo, der bereits zweimal in Cannes eingeladen war, im Wettbewerb sein Melodram Mal Viver zeigen darf, während bei „Encouters“ das Gegenstück Viver Mal läuft. Ohnehin etabliert sich Encounters im Sektionsdschungel der Berlinale als Konkurrenzveranstaltung zum Wettbewerb, was schon in den vergangenen Jahren auf wenig Gegenliebe bei der Filmkritik stieß, weil sich das Cannes-Konzept des „Certain Regard“ nicht durchsetzt. Die Filme in diesem Teil der Berlinale machten bei der Präsentation mehr Eindruck als die Werke im Wettbewerb. Hier will die Berlinale ihr politisches Profil weiter schärfen, so etwa mit dem tschetschenischen Film The Cage is looking for a Bird, der ukrainischen Kriegsdoku Eastern Front und My Worst Enemy aus dem Iran. Sektionsübergreifend werden auf dem diesjährigen Festival neun Filme mit Iran- und acht Werke mit Ukraine-Bezug gezeigt.

Der Goldene Ehrenbär geht in diesem Jahr an Steven Spielberg. Neben seinen Klassikern wie Der weiße Hai, E.T. oder Schindlers Liste werden auch sein Debüt Duel aus dem Jahr 1971 und sein neuer Film Die Fablemans gezeigt. Nach zwei Pandemie-bedingten außerordentlichen Festivaljahren geht die Berlinale in diesem Jahr wieder in den normalen Modus über und zeigt die Filme in den voll ausgelasteten Kinos in Berlin (16. bis 26. Februar). Die Jury wird von der amerikanischen US-Schauspielerin Kristen Stewart geleitet. Die Preise werden am Samstag, 25. Februar, verliehen.

Martin Theobald
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