Deutschland

Wechselwille

d'Lëtzebuerger Land vom 21.05.2021

Schon lange nicht mehr, so stellte ein führendes Meinungsforschungsinstitut fest, sei der Wille zur Veränderung bei den Deutschen so ausgeprägt gewesen wie derzeit. Knapp jeder Dritte wünsche sich eine neue Politik, eine neue Regierungskonstellation und damit auch eine neue Zeit. Zuletzt habe man eine solche Stimmung im Jahr 1998 feststellen können, als die Ära von Helmut Kohl sich ihrem Ende zuneigte. Dies sei die normative Kraft des Faktischen, kommentierten viele deutsche Medien dieses Meinungsbild. Denn schließlich trete Angela Merkel nicht mehr an, so dass es ohnehin zu einem Wechsel kommen werde. So oder so.

Der Wunsch nach Veränderung manifestiert sich auch in der aktuellen „Sonntagsfrage“ der Meinungsforscher von Forsa: Wäre an diesem Sonntag bereits Bundestagswahl, so käme die CDU auf 24 Prozent, die Sozialdemokraten auf 15 Prozent, die Grünen würden mit 26 Prozent stärkste Kraft. Für die FDP würden elf Prozent stimmen, für die AFD zehn. Die Linke schließlich käme auf sechs Prozent, alle anderen Parteien zusammen auf acht. Unter den heute im Bundestag vertretenen Parteien gäbe es dann fast ausschließlich Verlierer: die Christdemokraten mit minus 8,9 Prozent, SPD minus 5,5 Prozent, AFD minus 2,6 Prozent und Linke mit 3,2 Prozent weniger Stimmen. Hinzugewinnen würde lediglich die FDP mit einem Prozent und die Grünen mit über 17 Prozent. Sie würden ihren Stimmenanteil gegenüber der Bundestagswahl 2017 nahezu verdreifachen.

Doch das ist schnödes Zahlenwerk und bis zur Wahl am 26. September wird es noch viele Prognosen geben. Nichts ist so vergänglich wie die Wahlumfrage vom Vortag. Das ist derzeit das größte Handicap der Grünen: Sie können ihre noch so hervorragenden Umfrageresultate nicht in Stimmen ummünzen. Etwa bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März dieses Jahres. In beiden Bundesländern waren die Prognosen günstiger als das tatsächliche Wahlergebnis. Für die kommende Bundestagswahl hat die Partei nun zum ersten Mal eine Spitzenkandidatin gekürt. Annalena Baerbock setzte sich gegen ihren Ko-Vorsitzenden Robert Habeck durch. Während dieser bereits als stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume in Schleswig-Holstein Regierungserfahrung sammeln konnte, tritt Baerbock bar solcher Expertise an – was ihr dieser Tage zum Vorteil gereicht.

Denn die manifeste Wechselstimmung in Deutschland gründet sich auch auf den politischen Skandalen der letzten Monate. Angefangen beim Einstreichen von Provisionen bei Maskenkäufen in der Corona-Pandemie, über den Vorwurf der Vetternwirtschaft bei Immobilienkäufen, bis hin zu Unstimmigkeiten bei Universitätsabschlüssen. Sie gründet sich aber vor allem auch auf unschlüssige und inkonsequente Politik zur Bekämpfung der Pandemie oder die Unfähigkeit mancher Minister im Bundeskabinett. Sowie der Kür des Spitzenkandidaten bei CDU und CSU, als Armin Laschet und Markus Söder unverhohlen offenlegten, dass es ihnen weniger um Land oder Politik gehe, sondern um ihr Ego und überkommene Machtansprüche. Dies begründet neben dem Wunsch nach Veränderung auch eine stetig zunehmende Politikverdrossenheit, die derzeit die weitaus größte Gefahr für die Demokratie darstellt.

Dieser Politikmüdigkeit in der Bevölkerung, der sich in den vergangenen Jahren vor allen Dingen die Alternative für Deutschland (AFD) bediente, kann im beginnenden Wahlkampf den Grünen zum Vorteil werden, da sie konsequent auf andere Optionen, wenn nicht gar Alternativen zur derzeitigen Politik der Regierungskoalition setzen, sich aber bei strategisch wichtigen Themen konziliant zeigen. Beschlüsse zur Pandemiebekämpfung etwa haben die Grünen stets mitverantwortet. Sie sind derzeit aber auch die einzige Partei, die aufzuzeigen vermag, dass sie auf kommende Modernisierungsherausforderungen in Politik, Ökonomie und Gesellschaft programmatisch reagieren kann – während sich beispielsweise die SPD in den Untiefen der Identitätspolitik verliert.

Hinzu kommt, dass die Grünen derzeit noch keinen Gegner haben: Christ- wie Sozialdemokraten fassen sie noch mit Samthandschuhen an. Denn bei allen Prognosen und Wahlforschungen zeigt sich, dass eine Regierungsbildung im Herbst nicht ohne die Grünen geschehen kann. Somit kommt ihnen zumindest die Rolle des Züngleins an der Waage zu, die in den ersten Jahren der Bundesrepublik immer die FDP innehatte. Die Liberalen haben sich auf ihrem Bundesparteitag am vergangenen Wochenende für ein hauptsächlich von ökonomischen Aspekten bestimmtes Wahlprogramm entschieden. Doch der Partei hängt immer noch die Arroganz ihres Vorsitzenden Christian Lindner an, der die Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU, Grünen und FDP nach der letzten Bundestagswahl platzen ließ – mit den denkwürdigen Worten: „Es ist besser, nicht zu regieren als schlecht zu regieren.“

Einstellen können die Deutschen sich bereits auf einen schmutzigen Wahlkampf. Einen ersten Vorgeschmack darauf gab es unmittelbar nach der Kür von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin: Statt den Diskurs oder Wettkampf in den politischen Positionen zu suchen, begann eine beispiellose Schlammschlacht im Internet mit dem einzigen Ziel, Baerbock als Person zu diskreditieren. Es wurden gefälschte Nacktfotos verbreitet, Gerüchte gestreut, Feindeslisten verfasst. So dass die grüne Politikerin Personenschutz bekommen musste. Dieses Momentum griff ein Berliner Lokalpolitiker der SPD auf: Er stellte am gleichen Tag seine Kandidatur zum Berliner Abgeordnetenhaus. Nach einem missglückten Start in den Wahlkampf konstruierte er sich eine Biografie als von Rechten verfolgter Politiker und heimst nun Solidaritätsbekundungen aus seinem Wahlbezirk ein. Ob die im Herbst in Wählerstimmen umgemünzt werden können, bleibt abzuwarten. Die Zeit der programmatischen Wahlkämpfe jedoch scheint endgültig vorbei zu sein.

Martin Theobald
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