Während der Debatte über den Bericht des Obersten Rats für nachhaltige Entwicklung am Mittwoch vergangener Woche kündigte Premier Jean-Claude Juncker der Abgeordnetenkammer an, dass „der eigentliche Impakt der Krise sich erst nach den Wahlen bemerkbar machen“ werde.
Das kam etwas überraschend. Denn das statistische Amt des Wirtschaftsministeriums, Statec, machte in seiner im Dezember veröffentlichten Konjunkturnote Hoffnung: „[U]ne reprise légère pourrait se manifester dès la deuxième moitié de 2009“ (S. 8). Aber nach der Kabinettsitzung am Freitag wiederholte Juncker, dass die Krise sich „im zweiten Halbjahr, nach den Wahlen“ noch verschlimmern werde.
2007 hatte es noch so ausgesehen, als ob ein der CSV wenig dienlicher Wahlkampf um die Nachfolge von Premier Juncker bevorstünde. Als sich dann die Ernennung eines ständigen Vorsitzenden des EU-Ministerrats verzögerte, war 2008 noch ein möglicherweise der LSAP nützlicher Wahlkampf um die Wiedereinführung der automatischen Indexanpassung angekündigt worden. Doch am Montag veröffentlichte das Luxemburger Wort die Ergebnisse einer Anfang des Monats durchgeführten Meinungsumfrage, und danach wurde die Krise für das wichtigste Wahlkampfthema gehalten. Im November rangierte die Krise noch auf Rang fünf.
Der Kommentar des Regierungschefs zu diesem Meinungsumschwung lässt sich mehrfach deuten. Zuerst hat der Mann wahrscheinlich recht. Denn als Vorsitzender der Eurogruppe dürfte er auch über den einen oder anderen Expertenbericht verfügen, der pessimistischer als die offiziellen Erklärungen ist. Ähnlich dem Papier über die Lage der europäischen Banken, das die Kommission vor 14 Tagen den EU-Finanzministern vorlegte und laut dem „impaired assets may amount to 44pc of bank balance sheets“ oder 16,3 Billionen Euro, so der The Daily Telegraph (11.2.). Und während die EU-Kommissarin und CSV-Spitzenkandidatin für die Europawahlen, Viviane Reding, schon am 29. Oktober verkündet hatte, dass „der Hauptsturm vorüber“ sei, sind derzeit mehrere osteuropäische Staaten und anschließend vielleicht ihre Gläubigerbanken am Rande des Bankrotts, warnte die US-Regierung am Montag, dass sie sich gezwungen sehen könnte, verschiedene Großbanken vorübergehend zu verstaatlichen, um einen noch größeren Bankenkrach abzuwenden. Der Internationale Währungsfonds sagte vergangene Woche Luxemburgs Haupthandelspartner Deutschland einen Rückgang der Wirtschaftsaktivität im laufenden Jahr um 2,5 Prozent voraus. Die Liste der Industriebetriebe, die hierzulande die Produktion drosseln müssen und Arbeitsplätze abbauen, wächst fast täglich.
Jean-Claude Junckers Botschaft, dass im zweiten Halbjahr alles noch schlimmer wird, heißt aber auch: Seht her, ich bin der Ausnahmepolitiker, der als einziger den Leuten vor den Wahlen nichts vormacht. Deshalb ist mir auch nach den Wahlen zu vertrauen – anders als dem restlichen Pack, das den Wählern skrupellos das Blaue vom Himmel verspricht. Die Taktik funktioniert. Denn die Meinungsumfragen von Luxemburger Wort und Tageblatt bescheinigen ihm regelmäßig um die 90 Prozent Vertrauen der Befragten, theoretisch also mehr als alle Wähler von CSV, LSAP, DP und Grünen zusammengenommen.
Andererseits gehört die Prophezeiung, dass „das dicke Ende“ nach den Wahlen komme, seit Jahrzehnten zum Standardrepertoire der wechselnden Oppositionsparteien von ganz rechts bis ganz links. Sie unterstellt der Regierung, heimlich Steuererhöhungen, die Manipulierung des Index, den Abbau von Sozialleistungen, die Errichtung von Industriemüllhalden zu planen oder andere finstere Pläne zu schmieden, die unpopuläre Politik aber erst nach den Wahlen bekannt zu geben, um so den Wählern die Möglichkeit zu rauben, die Regierung abzuwählen und ihre Vorhaben zu verhindern. Das Geniale an dem Vorwurf ist, dass er in einem Raum-Zeit-Kontinuum mit der uns vertrauten Kausalität vor den Wahlen unwiderlegbar ist.
Deshalb zählt der begabteste Politiker, den die ADR je hatte, Gast Gibéryen, die Warnung vor dem dicken Ende mit der ihm eigenen Vorliebe für Komplotttheorien zu seinen Lieblingsformeln. Vor den Gemeindewahlen im Oktober 2005 hatte er sie großzügig angewandt und über alle Erwartungen hinaus recht behalten. Denn nur drei Tage nach den Gemeindewahlen, hielt Premier Jean-Claude Juncker am12. Oktober 2005 eine dramatische Blood-sweat-and-tears-Rede vor dem Parlament, warf die Regierungserklärung von 2004 zum Altpapier und sprach plötzlich von Defizit, Index und Automatismen, denen die Tripartite anschließend mittels Indexmanipulation Herr werden sollte.
Nach dieser Erfahrung dürfte es sich bis zum 7. Juni keine Oppositionspartei nehmen lassen, angesichts der Wirtschaftskrise der Regierung vorzuwerfen, das „dicke Ende“ bis nach den Wahlen aufzuheben. Und nach der Erfahrung von 2005 wären alle Unschuldsbeteuerungen der Regierung, der CSV und sogar des anscheinend allseits beliebten Premiers keinen Euro-Cent wert.Wenn aber die Verdächtigungen derart plausibel scheinen, dass alles Bestreiten nutzlos bleibt, gibt es nur einen Ausweg, um das „dicke Ende“ nicht zum Dauerwahlkampfthema zu machen: die Flucht nach vorn, das heißt selbst anzukündigen, dass im zweiten Halbjahr, nach den Wahlen alles noch schlimmer wird.
Davon hat die Opposition recht wenig, solange die Wähler nicht den Eindruck bekommen, dass die Regierung bei der Krisenbekämpfung hoffnungslos versagt. Die DP wirft der Regierung zwar „Konzeptlosigkeit“ im Kampf gegen die Krise vor, und Parteipräsident Claude Meisch meinte während einer Pressekonferenz am 10. Februar, dass „die Regierung Krisenbewältigung eher als Meditationsaufgabe“ ansehe und die von der CSV gepriesene „Politik der ruhigen Hand nun zu Ende gehen“ müsse. Aber noch am 15. Oktober lobten sämtliche Parteien die Regierung für ihre Krisenpolitik und die zügige Verstaatlichung von Fortis und Dexia.
Gleichzeitig lehrt die Erfahrung, dass verängstigte Wähler konservativ wählen. Was liegt also näher, als den Wählern ein wenig Angst zu machen, dass die Krise sich nach den Wahlen noch verschlimmert? So dass sie den Zeitpunkt für „Experimente“ denkbar schlecht wählen würden, um beispielsweise mit einer Ampelkoalition unter Ausschluss der CSV zu liebäugeln, von der einzelne Sozialisten, Liberale und Grüne nach der Legalisierung der Euthanasie träumten.
Stattdessen sollen die Wähler lieber dem Altbewährten vertrauen, das heißt einer CSV, die unablässig für ihre Finanzpolitiker, für die Stabilität des „Werner-Frang“, den „sicheren Weg“ Jean-Claude Junckers und die „ruhige Hand“ Luc Friedens beim Umgang mit den Steuergeldern wirbt. Wobei dem Premier nicht nur als demjenigen, der bereits vor den Wahlen die Wahrheit sagt, ein Bonus zukommt, sondern im Vergleich zu den eher lokalpolitischen Größen der anderen Parteien vor allem auch als erfahrener und international regelmäßig ausgezeichneter Mister Euro.
Eine Dramatisierung der Verhältnisse im Vorfeld hat für die Regierenden zudem den Vorteil, dass die Leute sich gleich auf das Schlimmste gefasst machen. Fallen die geplanten Maßnahmen zugunsten der Rettung von Betrieben, der internationalen Wettbewerbsfähigkeit oder zur Sanierung der Staatsfinanzen dann weniger drastisch aus, als die Wähler befürchteten, werden sie am weniger dick ausgefallenen Ende sogar erleichtert und beinahe dankbar sein.