Ehe am Samstagmorgen im Strassener Centre Barblé der Sonderparteitag der Grünen begann, verteilten zwei als Eisbären verkleidete Jugendliche Handzettel. „Le temps change, il est temps de changer!“ stand darauf und dass die Erwärmung der Arktis den Lebensraum der Eisbären immer mehr bedrohe.
Dass sich die Zahl unterernährter Eisbären seit Mitte der Achtzigerjahre verdreifacht hat, ergab Ende letzten Jahres eine Studie der Universität Alberta in Kanada. Mittlerweile gehen immer mehr Klimaforscher davon aus, dass dem Planeten noch in diesem Jahrhundert eine Erhöhung der Durchschnittstemperaturen um vier Grad Celsius bevorsteht – schlimmstenfalls schon 2050. Dann würden sich, laut einer Simulation durch Wissenschaftler der Universität Tokio, über die Erde zwei Trockengürtel erstrecken, auf denen Leben unmöglich wäre: der eine von Mittelamerika über Südeuropa, Nordafrika, Südasien und Japan; der zweite über Chile, das südliche Afrika, die pazifischen Inseln und den größten Teil Australiens. In Westeuropa wären Flüsse wie Donau und Rhein ausgetrocknet, weite Teile Frankreichs Sandwüste1. „Um auf der sicheren Seite zu sein“, meinte der deutsche Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen vor vier Wochen gegenüber dem Londoner Wissenschaftsmagazin New Scientist, „müssten die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2015 um 70 Prozent sinken. Stattdessen werden es pro Jahr drei Prozent mehr.“2
Aber falls die anhaltende Weltwirtschaftskrise dem System Klima eine Atempause verschafft? Wo doch der CO2-Ausstoß des ganzen Jahres 2008 von Pro-Kopf-Emissionsweltmeister Luxemburg schon vor allem dadurch um über vier Prozent sank, dass im letzten Quartal die Produktion in energieintensiven Industriezweigen einbrach. Das führte zwar zu Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit auf Rekordniveaus. Aber könnte aus diesem Zusammenhang womöglich ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell formuliert werden – „Grad elo“, wie das Motto in Strassen hieß, als Déi Gréng ein Anti-Krisen-Sofortprogramm verabschiedeten, das den Titel Umsteuern trägt?
Wer weiß! In ihrem Wahlprogramm, das sie bereits am 10. Oktober veröffentlicht haben, versprechen Déi Gréng, ein „dynamisches Wirtschaftswachstum für Luxemburg [zu] erhalten“, und Fraktionspräsident François Bausch betonte am Samstag, das Programm müsse nicht geändert werden. Wirtschaftskompetenz sollte in Strassen demonstriert werden. Nachdem Parteisprecherin Tilly Metz das Maßnahmen-Patchwork der Regierung zur Ankurbelung der Wirtschaft einen „hyperaktiven Aktionismus“ genannt hatte, trugen die Abgeordneten François Bausch, Felix Braz und Henri Kox demonstrativ strukturiert die sektoralen Reformvorschläge der Partei vor. „Yes we can, but also we’ll do it!“, hatte Jean-Paul Faber, Vorsitzender der Lokalsektion Strassen, dem Parteitag zuvor mit auf den Weg gegeben.
Den Finanzplatz wollen die Grünen zum Kompetenzzentrum für sozial-ethische Geldanlagen, Mikrofinanzfonds und Öko-Investmentgesellschaften ausbauen. Der Weltmarkt für ökologische Finanzprodukte betrage gegenwärtig schon 1,37 Billionen Dollar im Jahr, sagte Bausch, am Fondshandelsplatz Luxemburg aber seien erst 0,6 Prozent des Einlagevermögens „nachhaltig“ zu nennen. Wer das ändere, brauche weder Diskussionen um das Bankgeheimnis zu fürchten, noch eine verschärfte Finanzaufsicht, die Déi Gréng befürworten.
Der exportorientierten Industrie wollen sie zwei neue Nischen erschließen und eine höhere Binnennachfrage zuführen: Stahlindustrie und Baubetriebe sollten ein „Cluster für energiesparendes Bauen“ bilden, meinte Felix Braz, und ein „Exzellenzzentrum für grüne Gebäude und Städte“ solle auf den Markt der Großregion zielen. Die Autozulieferer, die mit über 10 000 Arbeitsplätzen rund doppelt so viele Beschäftigte zählen wie die Stahlindustrie, wollen Déi Gréng in einem „Exzellenzzentrum für Hybrid- und Elektrofahrzeuge“ zusammenarbeiten lassen.
Handwerk und Baubranche schließlich könnten von energetischer Gebäudesanierung, der Entwicklung neuer Baumaterialien und der Installation energiesparender Haustechnik profitieren. Henri Kox versprach, „allen Privathaushalten durch zinsfreie oder stark zinsvergünstigte Darlehen die energetische Sanierung ihrer Wohnung“ zu ermöglichen, alle öffentlichen Gebäude innerhalb von fünf Jahren „auf den energetisch neuesten Stand“ zu bringen und energieintensiven Betrieben „Hilfestellung, damit sie nicht in den steigenden Energiekosten untergehen“.
Aber „zu Wirtschaft und Umwelt noch etwas sagen“ zu wollen, wie François Bausch den Zweck des Strassener Sonderparteitags zu Beginn umriss, versteht sich derzeit irgendwie. Eine Finanzierungsoffensive für alle Privathaushalte zur energetischen Sanierung verspricht die DP schon seit neun Monaten. Für die LSAP hoch symbolisch besiegelten Anfang Februar Umweltminister Lucien Lux und Wirtschaftsminister Jeannot Krecké mit OGB-L-Präsident Jean-Claude Reding ein „Bündnis für grünes Wachstum“. Wenn in den USA die Obama-Regierung von ihrem vor fünf Wochen aufgelegten, 787 Milliarden Dollar schweren Konjunkturprogramm 120 Milliarden für die Entwicklung neuer Technologien vorgesehen hat und davon 70 Milliarden in emissionsarme Techniken, erneuerbare Energien sowie Wasserschutz und Abfallbeseitigung stecken will, hat das Folgen in der ganzen Welt. Selbst die deutsche CDU, die sich ebenfalls im Wahlkampf befindet, ruft zur „ökologischen Revolution“ auf, und wenn in Luxemburg am Sonntag die CSV ihr Wahlprogramm vorstellt, wird sie vermutlich ähnlich plädieren. Was könnte originär grüne Politik sein, wenn alle die Begrünung der Wirtschaft wollen?
Für Déi Gréng ist das tatsächlich eine kritische Frage, denn ihnen fehlt ein zu Ende gedachtes grünes Zukunftsmodell Luxemburg. „Ganz schwer“ würden die nächsten Jahre werden, ist François Bausch überzeugt. Was man „den Leuten auch ehrlich sagen“ müsse.
Im Spätherbst 2008 aber, als die Krise auch in Luxemburg angekommen war, sah Bausch anstelle des „dynamischen Wirtschaftswachstums“, von dem das Wahlprogramm spricht, für die Zukunft „zwei Prozent im Schnitt“ voraus, und zwar auf Dauer. Damals hatten die Grünen im Wahlkampf jene politische Kraft sein wollen, die sagt, weshalb das „eine Chance“ sei, und was daraus für das Sozialsystem im einst prosperierendsten Metropolen-Standort der Großregion folge (d’Land, 12.12.2008). Damals hatte man sich damit abgefunden, dass nach dem 7. Juni Schwarz-Grün kaum eine Option sein werde wie 2004 für ein paar Tage, weil nach der Euthanasie-Debatte die CSV Déi Gréng nicht für koalitionsfähig halten würde.
Heute ist die Lage komplexer: Gewinnt die zum Rechtspopulismus gewendete ADR am rechten Rand der CSV viele Stimmen, könnte im Sommer eine Dreierkoalition gebildet werden. Als Parteisprecher Carlo de Toffoli in Strassen vorschlug, das Mandat der aktuellen Parteispitze bis Oktober zu verlängern, galt die Bemerkung: „Je nachdem, wie die Wahlen ausgehen, müssen wir die Funktionen im Herbst sowieso neu besetzen“, nicht etwa einer Partei, die nur an die Fortsetzung der fünfundzwanzigjährigen parlamentarischen Opposition denkt.
Und so überlassen Déi Gréng nicht nur die Rolle desjenigen, der den Leuten sagt, das Schlimmste komme noch, gerne Jean-Claude Juncker, sondern halten sich sozialpolitisch auffällig bedeckt. François Bausch will zwar „eine ehrliche Diskussion mit dem Bürger über die Staatsfinanzen“ führen. Er meint, an der Erhöhung der Solidaritätssteuer zur Speisung des Beschäftigungsfonds führe kein Weg vorbei, und fand es in Strassen „schon problematisch“, dass die Beiträge zu den Pensionskassen zu einem Drittel fiskalisiert sind, demnächst jedoch „Staatseinnahmen fehlen“. Die Lösung dieses Problems müsse aber „eine Generation dauern, sonst ist sie nicht generationengerecht“, gelang es Bausch, sich nicht festzulegen. Gerecht dagegen fänden es die Grünen, die Sozialleistungen „noch selektiver“ auszurichten, ohne es genauer zu erklären. Dafür wurde in Strassen erneut eine Ökosteuerreform erwähnt, die Déi Gréng sich aber erst innerhalb von zwei Jahren nach ihrem Regierungseintritt von einem Experteninstitut und der Uni Luxemburg entwerfen lassen würden.
Zu den sozialpolitisch deutlicheren Aussagen des grünen Anti-Krisen-Vorhabens gehören ein Plädoyer für mehr Personal für die Adem und eine verbesserte Berufsorientierung angehender Schulabgänger. Als „zusätzliches Standbein“ wollen Déi Gréng die „Sozial- und Solidarwirtschaft mit Leben erfüllen“, bei deren „neuartigen Dinstleistungsformen“ es „nicht primär um Warenverkauf und Profit geht, sondern eher um Austausch oder gemeinsame Nutzung von Waren“. Die „Arbeitsmarktprobleme eines wirtschaftlichen Strukturwandels“ hin zu „Umwelttechnologien, Umweltdienstleistungen und Klimaschutz“ würden aber „vorübergehende“ sein, versprechen Déi Gréng.
Doch sicher sind sie sich nicht, ob all das reicht – zur Transformation des Hochlohnlands und seiner Gesellschaft, von der ein Großteil bisher von der Krise nicht betroffen war, und zum Kampf gegen den Klimawandel. Als der Parteitag Änderungsanträge zum Anti-Krisen-Konzept besprach, drehte die längste Diskussion sich ausgerechnet um die Frage: Sollte man ausführlich erklären, wieso „wirtschaftliches Wachstum und die Lebensqualität aller Menschen nicht mehr im direkten Zusammenhang“ stehen, oder kurz und bündig auf die Begrenztheit der planetarischen Ressourcen verweisen?
Am Ende wollte eine Mehrheit die ausführliche Fassung, obwohl sie mehrmals dasselbe aussagt. Aber auch die Redaktionskommission unter Vorsitz von Parteisprecher de Toffoli fand, hier sei der Kern grüner Programmatik berührt. Und dieser Kern ist offenbar so hart noch nicht.
1 Climatic Change, Vol. 64, S. 59
2 New Scientist, Vol. 201, Nr. 2697