Irène T. ist geschieden. Seit drei Jahren. Sie hat zwei Kinder. Seit 25 Jahren arbeitet sie in Teilzeit beim gleichen Arbeitgeber. Berufliche Aufstiegsmöglichkeiten gibt es in dem kleinen Betrieb keine. Irène lebt weiter mit den beiden Kindern bei ihrem Ex-Mann. Die Situation ist sehr angespannt, für alle Mitglieder der Familie. Da der eigene Lohn zu niedrig ist, um eine derzeit geläufige Miete zu zahlen, hat Irène sich bei den staatlichen Wohnungsträgern eingeschrieben. Sie hat eine Absage erhalten, mit der Begründung, dass sie mit ihrem Ex-Mann zusammenlebt und das die kleine Wohnung ihnen gehöre, wenn der Kredit abgezahlt ist. Irene kommt aus einfachen Verhältnissen, sie verfügt weder über ein familiäres noch soziales Netzwerk, welche ihr helfen könnten, eine angemessene Lösung zu finden. Das Appartement zu verkaufen ist derzeit keine Option., und ihr das Geld auszahlen kann der Ex-Ehemann nicht. Irène fängt an, ihre Kraft abzubauen. Die tagtägliche Ungewissheit macht aus der ehemals mutigen Frau eine Zweiflerin. Sie will durchhalten, aber ob sie es schaffen wird, ist unwahrscheinlich. Erste gesundheitliche Schwächen machen sich bemerkbar. Die Sozialarbeiterin steht ihr zur Seite bei Anfragen, die in ihren Kompetenzbereich fallen. Aber eine Wohnung zu finden ist auch ihr unmöglich.
Als Caritas und Croix-Rouge-VertreterInnen vor einem Monat im Rahmen der Vorbereitung des Koalitionsprogramms ihre Vorstellungen zur Bekämpfung der Armut in Luxemburg darstellen durften, erwachten bei den relevanten Organisationen und Institutionen der Sozialhilfe hohe Erwartungen an die neue Regierung. Das Armutsrisiko ist in Luxemburg in der Tat in den letzten Jahren gestiegen. Rezent hat das Statec besorgniserregende Daten vorgelegt. Mietpreise, inklusive Zusatzkosten, verschlingen bei einer steigenden Zahl von Betroffenen mehr als die Hälfte ihres Einkommens. Dabei handelt es sich nicht nur um Revis-Bezieher/innen, sondern auch um Menschen, die erwerbsfähig sind. Die Lebensmittelpreise sind in einem Jahr um zehn Prozent gestiegen. Dass Armut somit nicht nur eine Frage des Geldes und der Umverteilung ist, bedeutet dass diese „komplexe Problematik mit vielen Dimensionen“, wie es Formateur Luc
Frieden ausdrückte, eine Herangehensweise braucht, die ebenfalls multidimensional ist.
Abraham Maslow1 stellte in seiner fünf-stufigen hierarchisch aufgebauten Bedürfnispyramide dar, wie der Lebensweg des Menschen verläuft, damit man von einem guten Leben sprechen kann. Die vier ersten Stufen der Bedürfnispyramide sind Defizitbedürfnisse: Sind sie nicht erfüllt, hat das Auswirkungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden. Auf der ersten Stufe stehen die lebensnotwendigen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Sauerstoff, physiologische Bedürfnisse (Kleidung, Witterungsschutz, Wohnen, Schlaf, Sexualität). Die zweite Stufe ist ebenso wichtig zum Überleben. Es handelt sich um die Erfüllung der Sicherheitsbedürfnisse, sowohl im Sinne von Stabilität und Schutz als auch körperlicher, seelischer, finanzieller und sozialer Sicherheit.
Sind die beiden ersten Stufen erfüllt, kann der Mensch seine sozialen Bedürfnisse (dritte Stufe) angehen: Wunsch nach Kommunikation, Austausch, nach gelebter Gemeinschaft. In der vierten Stufe strebt der Mensch nach der Erfüllung seiner individuellen Bedürfnisse; diese sind von der Eigenart des Individuums geprägt. Es handelt sich um die Bedürfnisse nach sozialem Status, Wertschätzung, Macht oder Anerkennung. Auf der fünften Stufe steht das Streben nach Selbstverwirklichung: Dieses Streben setzt die Erfüllung der untergeordneten Bedürfnisse voraus. Auf dieser Stufe versucht der Mensch seine Fähigkeiten, Persönlichkeit und Kreativität so zu entwickeln, dass das eigene Leben einen für ihn stimmigen Sinn ergibt.
Falls es uns in Luxemburg nicht gelingen sollte, die zwei ersten Bedürfnisstufen für und mit den Menschen zu sichern, dann wird nicht nur der Lebensweg der einzelnen Person prekärer, es wird auch zu weniger Akzeptanz der Institutionen führen. Direkte schnelle Geldhilfeleistungen spielen in vielen Einzelsituationen eine wichtige Rolle für die Sicherung der physiologischen Bedürfnisse. Es gilt auch, auf der Ebene der Sicherheitsbedürfnisse anzusetzen. Stabilisierende nichtfinanzielle Maßnahme spielen dabei eine vorrangige Rolle: Der Drahtseilakt besteht darin, dem einzelnen Hilfesuchenden pragmatisch und realitätsgeprüft zu vermitteln, dass der Weg aus der Armut schwierig, aber nicht unmöglich ist.
2021 und 2022 spielten der Teuerungs- und Energiezuschuss diese Schlüsselrolle. Sie nahmen einer weiteren Prekarisierung der Menschen etwas Wind aus den Segeln. Eine effiziente Prozedur des Fonds national de solidarité ließ die Zuschüsse schnell und unbürokratisch bei der Zielgruppe ankommen. Politik vom Feinsten! Stufen eins und zwei der Bedürfnispyramide wurden so gesichert. Falls diese politische Methode in allen Bereichen des Armutsrisikos zum Paradigma würde, wäre der Sprung in Stufe drei, die der sozialen Bedürfnisse, wahrscheinlicher. Erst wenn die Existenz gesichert ist, kann Energie und Handeln für andere Lebensaufgaben freigesetzt werden. Erst wenn die Gedanken nicht mehr um die Zahlung der Miete und das Anschaffen von Kinderschuhen drehen, kann der Mensch aufatmen und zuhören. Dann kann Sozialarbeit die Erweiterung der gesellschaftlichen Kompetenzen anpacken.
Laut Volkzählung 2021 haben lediglich 26,3 Prozent der Bevölkerung keinen Migrationshintergrund, da ihre beiden Eltern in Luxemburg auf die Welt kamen. Des Weiteren haben 20,8 Prozent der Bevölkerung mit luxemburgischer Staatsangehörigkeit diese durch Einbürgerung erhalten. Die Mehrheit davon (50 205 Personen) erwarb die luxemburgische Nationalität zwischen 2002 und 2021. Für die Sozialarbeit bedeutet dies, dass ein Großteil der Menschen, die soziale Hilfeleistungen oder Beratungen anfragen, Mühe haben, die Gegebenheiten des luxemburgischen Staates und seiner Institutionen zu verstehen. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich. Menschen mit Migrationshintergrund fehlt oft ein familiäres oder soziales Netzwerk, um sie in einer Krisensituation zu beraten oder aufzufangen. Oder aber um die Funktionsweise der Verwaltungen und Prozeduren zu verstehen. Hier kann Sozialarbeit, wenn sie über die notwendigen Ressourcen verfügt, integrationsfördernd wirken.
Die offices sociaux spielen in der Armutspolitik eine wichtige, wenn auch eher diskrete Rolle. Ihre institutionelle Verortung ist für die Umsetzung von Sozialarbeit in den nächsten Jahren wichtig. Aus der Distanz betrachtet scheinen die dreißig kommunalen und regionalen Sozialbüros eine institutionelle Randerscheinung zu sein. Eine Institution als Hilfestelle für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben oder eine akute Notlage durchlaufen. Dabei ist der Sachverhalt, im Detail gesehen, etwas nuancierter. Und ob die offices sociaux demnächst den zunehmenden sozialen Anfragen eine effiziente institutionelle Antwort geben können, hängt wesentlich davon ab, welche institutionelle Verortung, welcher Zuständigkeitsbereich und welche Vernetzung ihnen zugeschrieben werden.
Seit dem Gesetz zur Sozialhilfe aus dem Jahr 2009 haben die Sozialbüros den Siegel der öffentlichen Einrichtung (établissement public), um ihre legale Mission auszuführen. In ihren Zuständigkeitsbereich fallen EinwohnerInnen, die in einer legal regulären Situation sind. Als qua Gesetz 2011 das Recht auf soziale Hilfe eingeführt wurde, entstand für die Verantwortlichen der offices sociaux die Herausforderung, sich institutionell neu aufzustellen. Schnell und kompetent, juristisch geprüft, in Methoden der Sozialarbeit eingebunden, so muss jede Anfrage innerhalb von 25 Tagen beantwortet werden. Ein Kraftakt für die Verwaltungsräte und Mitarbeiter/innen der einzelnen Sozialbüros, den die meisten bisher mit Bravour bestanden haben. In Notsituationen wird oft in weniger als 25 Tagen eine Hilfe zugestanden. Nur: Wie lange noch? In den nächsten Jahren müssen die Sozialbüros ihre Professionalisierung fortsetzen können.
Die offices sociaux sind in die kommunale und regionale Realität eingebunden. Im Dialog mit den Gemeindeverantwortlichen, lokalen Arbeitgebern, Ärzten und Vereinigungen können Direktlösungen in Einzelfällen schnell und unbürokratisch umgesetzt werden. Hier kann Politik noch mehr positive Unterstützung geben und schwerfällige – zum Teil kontraproduktive – Prozeduren verhindern oder abschaffen. Als établissement public garantiert die institutionelle Einbindung der offices sociaux eine Kontinuität der Sozialarbeit auf dem Gebiet der Gemeinden. In ihrem Arbeitsalltag im Sozialbüro sind Sozialarbeiter/innen mit sehr unterschiedlichen Anfragen konfrontiert. Zum Berufsbild des Sozialarbeiters, ein vom Gesetz von 1992 geregelter Gesundheitsberuf, gehört es, auf der Basis eines zu erstellenden Vertrauensverhältnisses, Schritt für Schritt die Autonomie des Menschen aufzubauen. Dieses Langzeitziel stellt eine Win-win-Situation dar, für den Einzelnen und für die Gesellschaft.
Im office social läuft Sozialarbeit auf zwei verschiedenen Zeitschienen ab: Berechtigterweise erwartet der Klient eine schnelle Antwort auf seine Anfrage (Kurzzeit). Falls die persönliche Handlungsweise des Klienten das eigentliche Problem ist, sollten mit ihm gemeinsam Maßnahmen überlegt werden, die angepasster sind (Langzeit). Das bedeutet, dass mit der sofort gegebenen Kurzzeit-Lösung auch schon eine Langzeit-Lösung angeboten werden kann – zumindest als Möglichkeit eines nachhaltigen Weges aus der Armut heraus. Da jedoch jede Lebenssituation spezifisch ist, sind automatisierte Maßnahmen keine Lösung. Die systemische, detaillierte Analyse (Anamnese) ist in jedem einzelnen Fall nötig. Das braucht Zeit, Sachkenntnis und professionelles Fingerspitzengefühl.
Die angebrachten Lösungsschritte für die Situation der alleinerziehenden Mutter sind meilenweit entfernt von der einer alleinlebenden chronisch kranken Person, deren Umzug in eine Institution organisiert werden muss. Für die Sozialarbeit im Office social bedeutet das Recht auf Hilfe für jeden Einzelfall, dass der Anfrage des Menschen binnen 25 Tagen eine Antwort gegeben wird. Aus gutem Grund, da es sich in vielen Fällen um die Sicherung der Bedürfnisse der ersten und zweiten Stufe der Bedürfnispyramide handelt. Für die interne Organisation des office social bedeutet das, dass personelle und prozedurale Ressourcen vorhanden sein müssen, um den komplexen und heterogenen Anfragen Herr zu werden. Der Klient bekommt schnelle Hilfe (etwa finanzielle Hilfe bei Überschuldung) währenddem die angestrebte Verbesserung und Autonomisierung zeitintensive Prozesse voraussetzt (Einzelgespräche, Begleitung, Netzwerkarbeit).
Sozialarbeiter/innen im office social können als „Allgemeinmediziner“ der Sozialarbeit verstanden werden. Sie handeln im Rahmen der legalen und reglementarischen Gegebenheiten der Sozialhilfe. Sie treten an andere Institutionen und Fachorganisationen heran, wenn dies im Sinne der Klienten ist, oder wenn andere Kompetenzen und Expertise nötig sind. Diese externen Akteure sind sowohl staatliche Institutionen als auch karitative Vereinigungen. Erschwerend für eine reibungslose Zusammenarbeit können verschiedene Faktoren sein: Unwissenheit über die jeweiligen Zuständigkeiten, Silodenken, unklare Prozeduren, unprofessionelles Handeln… „Case management“ mit einer designierten Referenzperson muss die Antwort sein auf die „Zerstückelung” des Menschen durch unterschiedliche Akteure.
Für Sozialarbeit insgesamt, und leider auch für die offices sociaux, stellt der Personalmangel in den Gesundheitsberufen ein Problem dar. Gut ausgebildete Sozialarbeiter/innen werden gebraucht. Das Berufsbild des „Allgemeinmediziners“ der Sozialarbeit muss weiter geschärft werden. Für die Ausbildung zum Sozialarbeiter bedeutet das, die derzeitige Ausbildung an der Uni.lu so schnell wie möglich praxisorientierter zu gestalten. Eine Masterausbildung, im Verbund mit einem EU-Mitgliedsland oder der Schweiz, wird unumgänglich angesichts der zunehmenden Kompetenzen, die gefordert sind, um soziale Entwicklungen zu verstehen, Lösungen zu entwickeln und Organisationen zu leiten.
Last but not least ist die angemessene Digitalisierung der Sozialarbeit eine Herausforderung der nächsten Monate und Jahre. Digitalisierung kann ein wichtiger Baustein in der Armutsbekämpfung sein. Das Dossier social partagé (DSP), nicht zu verwechseln mit der Krankenakte, wurde ins Gespräch gebracht. Um dem Klienten zu erlauben, „seine“ Situation digital zur Verfügung zu haben, würde das DSP unter Einbeziehung und mit der Einwilligung der Person eingerichtet. Die laufende Verwaltung davon bleibt in der Zuständigkeit der Person im Hinblick auf eine autonome(re) Lebensführung. In einer ersten Lernphase könnte sie sich einen Digi-Coach dazu holen. Das DSP soll einen schnellen, unbürokratischen Umgang bei Anfragen ermöglichen und eine Redundanz von Amtshandlungen mindern oder sogar ganz abschaffen. Der Klient könnte einer Verwaltung im Rahmen einer Anfrage (z.B Mietzuschuss) Zugang zu seinen persönlichen Daten geben. Somit könnte der Verwaltungsablauf schneller gestaltet werden. Und der Klient käme schnell in den Genuss einer Hilfe, die für ihn oder sie eine wesentliche Unterstützung darstellt.