Die Revis-Evaluation zeigt: Corinne Cahen hätte sich die Reform sparen und einfach das RMG für Familien mit Kindern erhöhen können

Verwaltung der Armen

Wo es wenig zu verdienen gibt: Horeca, Putzjobs, Kisten schleppen
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 28.07.2023

Sie war die vielleicht wichtigste Pressekonferenz, die DP-Familienminister Max Hahn gab, ehe das Sommerloch sich auftut und anschließend der Wahlkampf beginnt: Am Freitag voriger Woche wurde Bilanz zum Revis-Gesetz gezogen. Für Hahns Vorgängerin Corinne Cahen war die Reform des RMG zum Revis eines der wichtigsten Projekte der Legislaturperiode bis 2018. Sie selber sei, erklärte sie bei der Lesung des Revis-Gesetzentwurfs am 10. Juli 2018 in der Abgeordnetenkammer, „ganz vill op den Terrain“ gegangen. Und: „Déi sozial Inklusioun ass ons ganz, ganz, ganz wichteg.“

Sie klappt bloß nicht so richtig. Wahrscheinlich nicht. Ganz genau lässt sich das nicht sagen, obwohl die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) und das Forschungszentrum Liser fünf Berichte über das am 1. Januar 2019 in Kraft getretene Revis geschrieben haben. Das liegt auch daran, dass die Jahre 2019 bis 2021 betrachtet wurden, zwei Jahre Covid also, in denen vieles anders lief. Da war es vielleicht ein Glück, dass die blau-rot-grüne Mehrheit in der Kammer vor fünf Jahren die Motion des CSV-Abgeordneten Marc Spautz verwarf, der eine Evaluation schon nach zwei Jahren Revis wollte und nicht erst nach drei, wie die DP-Fraktion vorschlug und sich damit durchsetzte.

Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass Revis-Bezieher/innen mit Kindern höhere Zuwendungen erhalten. Das war eines der Hauptziele der Reform. Dazu wurden die Maximalbeträge der allocation d’inclusion erhöht, die im RMG allocation complémentaire hieß. Für Alleinerziehende mit einem Kind wurde das Maximum um 17,1 Prozent erhöht, woraus sich Anfang 2019 in der Tabelle 273 Euro monatlich mehr ergaben. Für zwei Erwachsene mit einem Kind wurden 8,8 Prozent mehr festgeschrieben; 206 Euro mehr laut Tabelle. Bei jedem weiteren Kind im Haushalt gelten entsprechend höhere Maximalbeträge.

Dass in der Praxis tatsächlich mehr Geld fließt, denn nicht immer wird die höchstmögliche allocation zuerkannt, hat die IGSS in einer Simulation ermittelt. Sie verglich, welche Hilfen 2021 pro Haushaltstyp im Schnitt eines Monats flossen und welche es im RMG-System gegeben hätte. Alleinerziehende mit einem Kind erhielten demnach dank der Reform im Schnitt 19,8 Prozent oder 192 Euro monatlich mehr, zwei Erwachsene mit einem Kind durschnittlich 6,2 Prozent oder 81 Euro mehr. Mit weiteren Kindern nahmen die Hilfe zu, wie das in der Reform geplant war.

Revis-Bezieher/innen ohne Kind erhalten im Vergleich zum RMG weniger. Alleinlebende im Schnitt minus 50 Euro im Monatsschnitt, ein Haushalt aus zwei Erwachsenen 158 Euro weniger. Auf den ersten Blick sieht das ungerecht aus, auf den zweiten wird es komplizierter. Die allocation d’inclusion soll ein Zusatz sein, ein complément, wie es im RMG hieß. Am besten soll der Weg aus dem Revis auf den ersten Arbeitsmarkt führen. Und sollte das nicht gleich klappen, würden die Revis-Bezieher/innen so gut wie möglich „aktivéiert“. Dass für Personen ohne Kinder die Maximalhilfe um rund anderthalb Euro stieg, war vielleicht einem Zählfehler in der Revis-Software zu verdanken. Dass die tatsächlichen Zusätze an sie sanken, folgt der Logik, sie im Vergleich zum RMG wirksamer zu „aktivéieren“. Es gehe darum, „de Betraffenen ze hëllefen, erëm selwer hiert Liewen ze meeschderen, an net, de Leit eng minimal Existenzgrondlag ze accordéieren, vun där si riskéieren ni méi fortzekommen“, hatte der DP-Abgeordnete Claude Lamberty, parlamentarischer Berichterstatter zum Revis-Gesetz, vor fünf Jahren in der Kammer erläutert.

Was das in der Praxis bedeutet, wird selbst durch die fünf Berichte nicht ganz klar. Ende 2015 bezogen 10 193 Haushalte ein complément aus dem RMG. 9 257 davon waren trotz beruflicher Aktivität arm. 2018 rechnete Cahens Vorgänger Marc Spautz, nun CSV-Oppositionsabgeordneter, im Parlament vor, damit blieben 7,2 Prozent der Haushalte zu „aktivéieren“. Er fragte sich, „ob ee fir d’Éischt net hätt eppes misse maachen fir déi 9 257“.

Eine berechtigte Frage. Doch während vor fünf Jahren im Parlament erwähnt wurde, dass 92,8 Prozent der RMG-Haushalte working poor waren, sucht man eine solche Auskunft in den Revis-Berichten vergeblich. Die IGSS schreibt, bis 2021 habe die Zahl der Revis-Haushalte auf 10 701 zugenommen. Dass drei von zehn keine anderen Einkünfte hatten als die allocation d’inclusion, bedeutet aber vermutlich nicht, dass es nun 60 Prozent weniger Haushalte gibt als 2015, die arm trotz Arbeit sind. Die IGSS erwähnt in einer Fußnote, „dans la catégorie ‚plusieurs catégories‘ autour de la moitié des communautés domestiques disposent d’un revenu du travail“. Weil in „plusieurs catégories“ 22 Prozent für das Jahr 2021 stehen, sind rund die Hälfte davon elf Prozent. Damit hätte der Anteil der working poor an Haushalten mit Beihilfe seit 2015 um etwa 50 Prozent zugenommen.

Nach der Revis-Logik ist die „Aktivéierung“ bereits erfolgreich, wenn sie in eine Existenz als working poor auf dem ersten Arbeitsmarkt führt. Das RMG, in dessen Bezeichnung „Mindest“ stand, sollte die letzte Instanz des sozialen Netzes sein. Die Aktivierung laut Revis entspricht dem in Deutschland mit den Hartz-Reformen verfolgten Ziel, die „Restkapazitäten“ der Hartz-Empfänger/innen zu „mobilisieren“. In Deutschland kommt das Ziel hinzu, sie einem Niedriglohnsektor zuzuführen. In Luxemburg gibt es einen Niedriglohnsektor offiziell nicht, doch das Schema ist dasselbe: Horeca, Putzjobs, Kisten schleppen. Hierzulande scheint das Problem auch darin zu bestehen, dass zur „Aktivéierung“ ein bürokratisches Ungetüm an Dienststellen geschaffen wurde, die sich gegenseitig behindern und ihren Klient/innen offenbar besser zu helfen imstande wären, wenn das Revis anders organisiert wäre.

Der Staatsrat hatte das in seinem Gutachten zum Revis-Gesetzentwurf kommen sehen, als er schrieb, die geplante Organisation sei „zumindest komplex“. In der aktuellen Praxis führt der Weg nicht zunächst zu einer Sozialarbeiterin, wie im RMG, sondern zu einem Berater der Adem. Mit ihm wird ein Zehn-Punkte-Katalog abgeabeitet, der die Eignung für den ersten Arbeitsmarkt ermittelt. Niedrige Qualifikation senkt die employabilité, fehlende Kenntnis der landesüblichen Sprachen auch, ebenso Kinder im Haushalt oder eine lange Arbeitslosigkeit. Wer beim Zehn-Fragen-Test schlecht abschneidet, wird von der Adem zu einem Aris geschickt, einem agent régional d’inclusion sociale. Die Aris sind Angestellte der regionalen Sozialämter, unterstehen aber dem Onis, dem Office national d’inclusion sociale.

Wenn ganz pragmatisch ein Zugang zum ersten Arbeitsmarkt selbst dann eine Verbesserung der persönlichen Situation einer Person ist, wenn sie dann noch immer eine Revis-Hilfe bezieht, dann gibt zu denken, dass der Zehn-Punkte-Test nach Auffassung der Praktiker nur in „mehr als der Hälfte der Fälle“ für aussgekräftig genug und die Hinzuziehung eines Sozialarbeiters für nützlich gehalten wird. So lief das beim RMG: Da ermittelte ein Sozialarbeiter die individuellen Stärken und Probleme eines Antragstellers. Festgestellt wird heute auch ein „manque de mesures adaptées aux profils spécifiques et hétérogènes et en terme de couverture géographique“. Worin vermutlich einerseits zum Ausdruck kommt, dass die „Aktivéierung“ oft Personen mit Flüchtlingsstatut betrifft (sie machten 2021 offenbar einen beträchtlichen Teil der Revis-Bezieher/innen aus, aber die IGSS erläutert nicht, welchen genau). Andererseits wurde mit dem Revis die Möglichkeit abgeschafft, RMG-Bezieher für begrenzte Zeit und sozusagen testweise bei einem Arbeitgeber unterzubringen.

Verstärkt wurden mit dem Revis dagegen die Sanktionen. Wer zum Beispiel einen Termin bei der Adem nicht einhält, bekommt das Revis für drei Monate gesperrt. Wer daraufhin seine Miete nicht zu zahlen vermag, kann beim Sozialamt nach Nothilfe fragen. Im Liser-Bericht heißt es verklausuliert, „les sanctions sont jugées parfois justifiables, mais (...) contreproductives par rapport au fait de travailler sur la motivation intrinsèque des personnes bénéficiaires“. So dass Corinne Cahen sich die große Revis-Reform womöglich hätte sparen und stattdessen einfach die RMG-Beihilfensätze für Haushalte mit Kindern erhöhen können.

Peter Feist
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