Was wird in diesen unsicheren Zeiten von einer auf Respektabilität bedachten Partei verlangt? Anscheinend, dass sie ihr Wahlprogramm mit der Wirtschaftspolitik beginnt. Das glaubt zumindest auch die Alternativ demokratische Reformpartei, die am Mittwochabend ihre Kandidaten im engen Versammlungssaal eines Dommeldinger Hotels versammelt hatte, um eine Kurzfassung des Programms vorzustellen.
Nach dem Wahldebakel von 2004, dem Abgang eines Abgeordneten, dem Ausfall eines zweiten und dem Verlust des Fraktionsstatus im Parlament hatte das ADR sich bis hin zu einem neuem Logo und einer Geschlechtsumwandlung zu erneuern versucht. In ihrem Wahlprogramm will die ADR sich nun seriöse und verantwortungsbewusst geben, indem sie es mit der Wirtschaft beginnen lässt und, wie alle anderen Parteien auch, jeder Branche, von den Banken bis zum Fremdenverkehr, Unterstützung, Zuschüsse und kurze Verwaltungswege verspricht.
Selbst für „offene Weltmärkte ohne Protektionismus“ ist die ADR zu haben, nachdem sie 2004 noch „eine Politik selektiver Importbeschränkungen“ von Agrarprodukten verlangt hatte. Dass die ADR als letzte Partei für das Bankgeheimnis kämpft, soll vielleicht bloß die verantwortlichen CSV-Minister als Vaterlandsverräter erscheinen lassen.
In der Sozialpolitik unterscheidet sich das ADR-Programm nur in Nuancen von demjenigen anderer Parteien, meist indem es die für Oppositionsparteien typischen zwei oder drei Prozent mehr verlangt, als die Regierungsparteien versprechen. Wenn es beispielsweise fordert, dass nicht nur die Gehälter und Renten, sondern auch die Familienzulagen wieder automatisch an den Index angepasst werden. Von der neoliberalen Umkrempelung des Steuersystems bis hin zur Einführung einer Flat tax für Reiche und Arme ist nur noch eine „Reduzierung des Steuertarifs auf vier Steuersätze“ geblieben, aber immerhin.
Die Partei droht, sich entschieden „gegen alle Maßnahmen zur Wehr [zu] setzen, die zum Sozialabbau“ führen. Doch bleibt offen, ob darunter auch die von der CSV angekündigte Senkung der Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst fällt. Dass die ADR an den regelmäßigen Mindestlohnerhöhungen festhalten will, ist eine Erinnerung an das einstige Gründungsmitglied NGL, aber die kleinen Geschäftsfrauen und Handwerkermeister in den ADR-Rängen sehen es trotzdem nicht gern. Auch bekennt sie sich nun „ohne Wenn und Aber zum gesetzlichen Mindesteinkommen RMG“, nachdem Generalsekretär und Anwalt Roy Reding im Oktober 2007 die Kritiken von Ombudsmann Marc Fischbach (CSV) aufgegriffen hatte, um eine drastische Kürzung des RMG zu verlangen.
Die Interessenwidersprüche zwischen sich oft vom sozialen Abstieg und nun von der Krise bedroht fühlenden abhängig Beschäftigten einerseits und Selbstständigen andererseits prägten die ADR von Anfang an. Wenn die Partei nun auch noch den Staatsbeamten anbietet, das Kriegsbeil zu begraben, muss sie auch auf den Neid auf die Beamten verzichten, der während Jahren das Profil der Partei ausmachte.
Die Partei wehrt sich dagegen, als populistisch bezeichnet zu werden. Doch wenn es noch eines Beweises für diese Einstufung bedurft hätte, liefert ihn das neue Wahlprogramm. Denn die Unverfrorenheit, mit der die ADR ihre Positionen wieder einmal so geändert hat, wie sie es gerade für opportun hält, erheischt beinahe Bewunderung.
Dabei hat die neue platonische Liebe der ADR zum öffentlichen Dienst etwas geradezu Rührendes an sich. Anders als noch 2004 ist die Partei plötzlich „gegen eine Privatisierung staatlicher Aufgaben“ und für eine „allgemeine Gehälterreform“. Sie will nun sogar das allseits kritisierte Arbeitsamt reformieren, ohne dessen Verwaltungsstatut und das Beamtenstatut anzurühren. Als ob es plötzlich gar nicht genug Beamte geben könnte, soll auch für die Behinderten im Land eine weitere „zentrale Verwaltung“ geschaffen werden, und auch die kleinsten Gemeinden sollen „einen Gemeindesekretär (mit Universitätsstudium), einen Receveur und einen Techniker in Vollzeit“ beschäftigen.
Nur die Lehrer kann die ADR oder ihr Vorsitzender weiterhin nicht leiden, auch wenn sie sie nicht mehr „unter dem privatwirtschaftlichen Arbeitsrecht einstellen“ will wie noch vor fünf Jahren. Weil die rezente Grundschulreform „das Papier nicht wert [ist], auf dem sie gedruckt“ ist, hält das Wahlprogramm an den liberal-konservativen Ideen des Schulkongresses von 2008 fest, wie die Schule zum Dienstleistungsbetrieb zu machen, aus dem sich der Staat zurückziehen soll. Alle Kompensierungsmöglichkeiten für schlechte Noten sollen zugunsten des „objektiven Punktesystems“ abgeschafft werden. „Schulschecks“ sollen eingeführt werden nach dem Vorbild der US-amerikanischen School vouchers, mit denen der Staat konfessionelle Privatschulen auf Kosten der öffentlichen Schule begünstigt.
Dass mit Renten keine Wahlen mehr zu gewinnen sind, hat das ehemalige Aktionskomitee 5/6-Pension für jeden längst erkannt. Deshalb bescheinigt es sich im Rückblick kurzerhand: „Dank der ADR wurde ab dem 1. Januar 1999 Rentengerechtigkeit in Luxemburg realisiert.“ Auch wenn die Partei das beim Votum der Reform 1998 noch etwas anders sah. Doch selbstgewiss kündigt sie nun an: „Nach der Rentengerechtigkeit wird die ADR die Erziehungsrente für den Elternteil durchsetzen, welcher sich ausschließlich der Kindererziehung widmet.“
Denn während die inzwischen durch rezente Meinungsumfragen etwas verunsicherte DP die Familienpolitik zu einem ihrer zentralen Wahlkampfthemen macht und dabei besonders die berufstätigen Beamten- und Angestelltenfamilien im Auge hat, will die ADR jene Wählerinnen gewinnen, die während Jahrzehnten von der konservativen CSV umgarnt worden waren und sich nun verraten fühlen: die Hausfrauen. Die ADR will deshalb die Berufsbezeichnung des „parent éducateur“ vorschreiben und die so geadelten Hausfrauen und Hausmänner mit einem „Betreuungsgeld“ bezahlen, der Summe der staatlichen Familienzulagen für Eltern aller Stände. In welchem Umfang berufstätige Grenzpendler Betreuungsgeld erhalten sollen, ist nicht ersichtlich.
Doch die Zugeständnisse an den anti-feministischen Männerverein AHL für eine Handvoll Listenplätze sind eher bescheiden. Die ADR ist jedenfalls „gegen jede Quotenlogik“, obwohl nur die Grünen mehr Frauen auf ihren Kandidatenlisten haben, und – anders als noch vor fünf Jahren – auch wieder gegen das Rentensplitting im Scheidungsfall. Aus dem Gesetz gegen die sexuelle Belästigung soll die Umkehr der Beweislast gestrichen werden – und das Außenministerium und die Botschaften, Arbeitsplatz des AHL-Präsidenten, will die Partei plötzlich „modernisieren und verstärken“.
Um die von der CSV vernachlässigte konservative Wählerschaft für sich zu gewinnen, ereifert sich die ADR ausführlich für die „nationale Kultur“ und dafür, dass man „in Luxemburg luxemburgisch spricht“. Statt der von anderen Parteien vorgeschlagenen und von der CSV nur zögerlich abgelehnten Trennung von Kirche und Staat verlangt die ADR eine „überlegte und harmonische Weiterentwicklung der Beziehungen“, ohne zu sagen, bis wohin.
Zwecks Respektabilität hält sich die ehemalige Saubermännerpartei auch mit der donnernden Enthüllung angeblicher Skandale zurück. ADR-Präsident Mehlen, der einst die Valissen-Affär erfand, ruft heute nur noch vage zum Kampf gegen die Vergeudung von Steuergeldern auf. Aber das tut auch die DP, und wer ist schon für Vergeudung?
Um überhaupt Originalität im Vergleich zu CSV und DP zu demonstrieren, muss das ADR-Wahlprogramm mit Schulschecks, Betreuungsgeld und einem „City-Tunnel“ unter der Hauptstadt aufwarten. Zeichnungen des skurrilen Tunnelprojekts illustrieren sogar den Umschlag des Wahlprogramms. Wie Karikaturen des ADR-Traums von einer modernen Bodenständigkeit.