CSV-Fraktionspräsident Marc Spautz möchte wieder mehr Arbeiter/innen im Parlament sehen, setzt sich für eine höhere Grundrente ein und versteht nicht, wieso die Banken die millionenhohen Überweisungen der Caritas zuließen

„Der soziale Flügel ist heute eindeutig nicht mehr so stark“

Marc Spautz
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2024

d’Land: Die rechtsextreme AFD hat am Sonntag bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen über 30 Prozent erreicht. Rechtsaußen-Parteien sind inzwischen in vielen europäischen Ländern erfolgreich. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Marc Spautz: Man müsste die Resultate genauer analysieren, ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass in Thüringen und Sachsen 30 Prozent der Bevölkerung rechtsextrem sind. Bei vielen Wähler/innen ist es sicherlich ein Ausdruck von Unzufriedenheit mit der Politik der traditionellen Parteien. Ich gehe davon aus, dass in drei Wochen in Brandenburg das Resultat dasselbe sein wird. Die traditionellen Parteien müssen sich damit auseinandersetzen, welche Hoffnungen sie bei den Menschen im Osten geweckt haben, die sie nicht erfüllen konnten. Wir befinden uns in einer unglücklichen Situation, auch in anderen Ländern: In Österreich liegt die FPÖ in den Umfragen zur Nationalratswahl in drei Wochen vorn, in Frankreich konnte der Wahlgewinn des Rassemblement national nur knapp verhindert werden.

DP-Fraktionspräsident Gilles Baum erklärte am Montag im RTL Radio, Angela Merkels Migrationspolitik sei nicht so erfolgreich, wie sie es sich gewünscht hätte, die von der AFD beworbene „Remigrationspolitik“ („massiv Leit auszeweisen“) sei nicht umsetzbar und nicht zu stemmen, weil die Wirtschaft zusammenbrechen würde. Es sei aber „de richtege Wee“, Straftäter zurück nach Afghanistan auszuweisen, wie die Ampel-Regierung es jetzt plant. Teilen Sie seine Einschätzung?

Die Einwanderungspolitik ist sicherlich ein Grund. Wäre vor zwei Wochen nicht der Messerangriff in Solingen passiert, wäre die AFD meiner Meinung nach unter 30 Prozent geblieben. Es ist aber nicht die einzige Ursache. In der französischen Grenzregion hat das Rassemblement national (RN) seine besten Resultate erzielt, ohne dass es vorher zu Attentaten kam. Dort ist es eher die Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung, die sich schon in der Bewegung der Gilets Jaunes bemerkbar machte. In Deutschland spielen sicherlich auch die Streitigkeiten zwischen den drei Regierungsparteien eine Rolle.

Ist es klug, wenn traditionelle Parteien, die sich der politischen „Mitte“ zuordnen, den Migrationsdiskurs der Rechtsextremen übernehmen, wie es derzeit in Deutschland passiert?

Das ist sehr gefährlich. Die Brandmauer zwischen rechtsextremen und traditionellen Parteien muss bestehen bleiben, doch gleichzeitig müssen Letztere untersuchen, was sie falsch gemacht haben, wenn so viele Menschen sich von ihnen abgewandt haben.

Wären Rückführungen nach Syrien und Afghanistan auch ein Weg, den Luxemburg beschreiten könnte?

Grundsätzlich sollte man sich diese Möglichkeit offen halten, allerdings muss je nach Situation individuell entschieden werden. Diese Frage müsste vor allem auf europäischer Ebene beantwortet werden. Wenn ich mir Italien, Ungarn, die Slowakei, bald vielleicht Österreich und die Entwicklung in Deutschland ansehe, müsste die Diskussion meiner Meinung nach globaler geführt werden.

Statt über soziale Ungleichheit zu reden, machen Rechtsaußen-Parteien Migranten verantwortlich für Armut und Kriminalität. Wieso gelingt es den traditionellen Parteien nicht mehr, ihren sozio-ökonomischen Diskurs durchzusetzen?

Ich habe neulich in der Neuen Zürcher Zeitung, die ich eigentlich sehr schätze, gelesen, Rechtsextremismus sei die neue Arbeiterpartei. Das hat mich doch sehr überrascht. Die Journalisten behaupteten, bei den Rechtsextremen fände man zumindest noch einige Leute, mit denen die Arbeiterklasse sich identifizieren könne. Ich denke, dass die traditionellen Parteien sich vor diesem Hintergrund hinterfragen müssen: Aus welchen gesellschaftlichen Schichten nehmen wir noch Menschen in die Wahlen mit und bräuchte es nicht wieder mehr Durchmischung? Als ich (2004; Anm.d.Red.) zum ersten Mal ins Parlament gewählt wurde, saßen dort zwölf Gewerkschafter. Heute sind es nur noch zwei. Viele Menschen können sich nicht mehr mit der Abgeordnetenkammer identifizieren, weil ihr Herkunftsmilieu darin nicht vertreten ist. Das gilt nicht nur für Luxemburg, sondern auch für andere Länder wie Deutschland oder Frankreich. Wir brauchen wieder mehr Parlamentarier, die die Probleme von Angehörigen der unteren Schichten verstehen und ihre Interessen vertreten.

In Luxemburg steigt das Armutsrisiko seit Jahren, bei den Working Poor gehört das Land zu den Spitzenreitern in der EU. Beunruhigt Sie das oder ist es eine „natürliche“ Entwicklung moderner Gesellschaften?

Armut ist nicht einheitlich definiert. Mit demselben Gehalt können Sie in Düdelingen als arm und in Volmerange-les-Mines als reich gelten. Zu den Working Poor möchte ich sagen, dass in Luxemburg die meisten Revis-Empfänger einer geregelten Arbeit nachgehen und den Revis lediglich als Zusatz beziehen, um das Mindesteinkommen zu erreichen. In diesem Bereich müssen wir Lösungen finden. Zur Rentrée wird DP-Familienminister Max Hahn zusammen mit CSV-Finanzminister Gilles Roth einen Plan zur Armutsbekämpfung vorstellen, um denen zu helfen, die es auch wirklich benötigen.

Soziale Ungleichheiten sind die Folge von Einkommensungleichheit. Die CSV-DP-Regierung weigert sich, den Mindestlohn zu erhöhen und größere Einkommen sowie Vermögen höher zu besteuern. Ist dieser Ansatz richtig?

Gilles Roth hat zumindest angekündigt, dass ab dem 1. Januar 2025 der Mindestlohn für alle steuerfrei sein wird. Unabhängig davon brauchen wir eine andere Tarifpolitik, was die EU ja auch in einer Richtlinie fordert. Darüber hinaus muss geprüft werden, ob das Mindesteinkommen – seien es der Mindestlohn oder Sozialtransfers, wie die Teuerungszulage – noch den heutigen Anforderungen entspricht. Als ich 2013 Familienminister war, hatte ich eine Studie in Auftrag gegeben, um zu prüfen, wieviel Geld ein Haushalt in Luxemburg benötigt, um ordentlich leben zu können. Dieser Schwellenwert zeigt heute deutlich, wie schwierig es für die untersten Einkommensschichten ist, noch über die Runden zu kommen. Deshalb brauchen wir zusätzliche Leistungen, damit diese Menschen wenigstens über der Armutsgrenze leben können.

Aus der von Ihnen angesprochenen EU-Mindestlohnrichtlinie geht hervor, dass der Anteil der Geringverdienenden in Ländern mit einer hohen Tarifbindung tendenziell niedriger ist. Gemäß den Vorgaben dieser Richtlinie möchte die Regierung bis Ende des Jahres einen Aktionsplan zur Erhöhung der Tarifbindung von derzeit 55 auf 80 Prozent vorlegen. Die Ausführungen dazu im Regierungsabkommen, die sie selbst mit ausgearbeitet haben, sind vage, die des Arbeitsministers bislang auch. Was muss dieser Aktionsplan Ihrer Ansicht nach beinhalten?

Es ist evident, dass wir mehr Tarifverträge brauchen und die Tarifpolitik von den national repräsentativen Gewerkschaften verhandelt werden muss, wie es in den Konventionen mit der Internationalen Arbeitsorganisation vereinbart wurde. Das muss über Rahmenkollektivverträge passieren, in den Sektoren, in denen bislang noch keine existieren. In der Industrie und im Finanzsektor gibt es schon relativ viele Kollektivverträge, im Handwerk ist es eher durchwachsen. Auf der Grundlage dieser Rahmkollektivverträge hat natürlich jeder Betrieb die Möglichkeit, noch etwas draufzulegen und bessere Bedingungen zu schaffen. Grundsätzlich kann die Erhöhung der Tarifbindung aber nur mit den Sozialpartnern in einem klaren und deutlichen Sozialdialog erreicht werden.

In Frankreich hat Emmanuel Macrons Rentenreform viele Proteste ausgelöst und sicherlich zur Stärkung des RN beigetragen. Die CSV-DP-Regierung will im Herbst auch in Luxemburg eine Rentendebatte beginnen mit dem ausgewiesenen Ziel, den zweiten (Betriebsrenten) und den dritten Pfeiler (Privatrenten) zu stärken. Der Wirtschafts- und Sozialrat hat zwei widersprüchliche Gutachten abgegeben: Die UEL möchte bei den Ausgaben sparen und keine Beitragserhöhung. OGBL, LCGB und CGFP bezweifeln, dass das aktuelle Rentensystem finanziell nicht mehr tragbar ist, und wenn doch, sollten die Beiträge erhöht werden. Wie ist die Position der CSV-Fraktion?

Wir müssen die Rentenreform von 2012 in einer offenen Diskussion fortsetzen. Die Versprechen, die wir den Menschen gemacht haben, die sich in dem aktuellen Rentensystem befinden, dürfen auf keinen Fall gebrochen werden. Aber wir müssen prüfen, wie wir in Zukunft weitermachen können. Der zweite und der dritte Pfeiler werden dabei eine Rolle spielen, aber für mich ist klar, dass die Grundrente erhöht werden muss. Um wieviel, muss sich im Rahmen der Diskussionen zeigen. Was den zweiten und dritten Pfeiler betrifft, müssen die Menschen von Anfang an wissen, dass sie darauf zurückgreifen können und was sie erwartet. Dass man Privatrenten fördert, finde ich grundsätzlich eine gute Sache, doch die öffentliche Grundrente muss hoch genug sein, um gut davon leben zu können. Wenn Menschen mit höheren Einkommen sich über den zweiten oder dritten Pfeiler Zusatzrenten sichern wollen, um über die Runden zu kommen, sollte ihnen das erlaubt sein.

DP-Fraktionspräsident Gilles Baum sagte im RTL Radio, die kleinen Renten zu kürzen, sei mit der DP „net dran“. Die CSV sieht das offensichtlich auch so. Doch wie sieht es mit den mittleren Renten aus?

Das ist individuell verschieden. Ich kenne Menschen, denen zum Beispiel 5 000 Euro Rente reichen. Ich kenne aber auch welche, die wollen mehr. Letztere müssen sich bewusst sein, dass sie künftig auf eine private Zusatzrente zurückgreifen sollen. Das aktuelle Rentensystem funktioniert gut, es hat sich bewährt und wir können es nicht einfach so über den Haufen werfen. Wir müssen es aber für die Zukunft absichern. Deshalb müssen wir jetzt mit den Sozialpartnern und den jungen Menschen diskutieren, um neue Wege zu finden. Beitragserhöhungen sind eine Möglichkeit, die Erhöhung der Versicherungszeiten eine andere. Die Rentenmauer wird früher oder später kommen, auch wenn sie durch das hohe Wirtschaftswachstum und die zahlreichen Grenzpendler weiter nach hinten gerückt ist.

Die Diskussion wird hauptsächlich über die Renten im Privatsektor geführt. Müsste man nicht auch über die Renten beim Staat und bei den Gemeinden reden?

Das Problem stellt sich zurzeit vor allem bei den Gemeindebeamten, deren Rentenkasse Schwierigkeiten hat. Eine Lösung muss zusammen mit allen Partnern gefunden werden, nicht nur mit denen aus dem Privatsektor, sondern auch mit den Gemeinden. Darüber hinaus beschäftigt der Staat immer mehr Mitarbeiter im privatrechtlichen Regime. Auch die müssen mit einbezogen werden, damit es nicht zu großen Unterschieden bei den Rentenansprüchen zwischen Beamten und Angestellten kommt.

Über Staatspensionen zu reden, ist politisch heikel...

Michel Wolter hatte 1998 eine Rentenreform beim Staat umgesetzt. Die Beamten, die vor 1999 eingestellt wurden und noch im Übergangsregime sind, werden immer seltener. Trotzdem kann man auch im öffentlichen Sektor irgendwann eine objektive Rentendiskussion führen, aber die fällt dann nicht unter die Zuständigkeit der Sozialministerin, sondern unter die des Ministers für den öffentlichen Dienst.

Die Regierung hat bislang vor allem Maßnahmen ergriffen, um die Kompetitivität zu erhöhen, die Wirtschaft anzukurbeln, Talente anzuziehen, das Wachstum zu steigern. Gleichzeitig begründet sie ihre Rentendebatte mit dem Argument, das Wachstum werde künftig zurückgehen. Hat sie kein Vertrauen in ihre eigene Wirtschaftspolitik?

Wir brauchen Wachstum wegen des Arbeitsmarkts und auch wegen der Renten, aber Wachstum kann nicht unendlich sein. Vom 700 000-Einwohner-Staat, vor dem Jean-Claude Juncker einst gewarnt hat, sind wir nicht mehr weit entfernt. Mit all seinen Konsequenzen: Für Grenzpendler lohnt sich die stundenlange Anfahrt immer seltener, was den Fachkräftemangel erhöht. Wir benötigen aber Fachkräfte und Talente, deshalb müssen wir ihnen etwas bieten.

Bislang haben die Maßnahmen aber noch nicht richtig gegriffen. Das Statec ist vorsichtig hinsichtlich von Wachstumsprognosen, was vor allem geopolitische und makroökonomische Ursachen hat. Was, wenn Luc Friedens „qualitatives“ Wachstumsversprechen durch Steuersenkungen mittel- bis langfristig nicht aufgeht?

Unser wichtigster Handelspartner Deutschland hat in der Tat derzeit Schwierigkeiten, den Motor wieder zum Laufen zu bringen. Auf europäischer Ebene bin ich aber zuversichtlich, dass die Wirtschaft sich erholt und der Standort Luxemburg wieder attraktiver wird für neue Betriebe, die zusätzliches Wachstum erzeugen. Es mag sein, dass dieser Effekt 2025 noch nicht spürbar sein wird, doch die Statistiken, die die Finanzinspektion uns jedes Trimester vorlegt, zeigen, dass die staatlichen Einnahmen über den Prognosen vom letzten Jahr liegen. Die Entwicklung geht in die richtige Richtung, deshalb bin ich weniger pessimistisch als Sie und bin überzeugt, dass die Wirtschaft sich spätestens 2026 wieder erholen wird.

CSV und DP sind mit dem Versprechen angetreten, das Defizit zu senken und die Staatsschuld unter 30 Prozent des BIP zu halten. Am 9. Oktober wird CSV-Finanzminister Gilles Roth den Haushaltsentwurf für 2025 vorstellen. Was erwarten Sie sich davon?

Ich gehe davon aus, dass Gilles Roth uns einen ausgewogenen Haushaltsentwurf präsentieren wird und wir die Schuldengrenze von 30 Prozent einhalten können. Diese Schuldengrenze stellt aber nur einen Mittelwert dar. Wenn sie in einem Jahr mal überschritten werden sollte, um wichtige Investitionen zu tätigen, ist das kein Beinbruch, es sollte nur nicht zum Dauerzustand werden.

Die CSV hat als Volkspartei stets den Spagat gesucht zwischen wirtschaftsfreundlichen und sozialen Ansätzen. Der wirtschaftsliberale und der sozialkatholische Flügel hielten sich mehr oder weniger die Balance. Ist der soziale Flügel, dem sie angehören, heute noch stark genug, um seine traditionelle Rolle in einer Koalition mit der DP zu erfüllen?

Der soziale Flügel ist heute eindeutig nicht mehr so stark, wie er es noch unter Jean-Claude Juncker und François Biltgen war. Trotzdem ist es uns noch immer gelungen, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Strömungen zu finden. Es stimmt, dass wir mit der DP noch bestimmte Anpassungen vornehmen müssen, aber wir können nicht unsere ganze Geschichte, all das, wofür wir in den letzten Jahrzehnten gekämpft haben, einfach über Bord werfen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir eine Politik hinbekommen, die die Wirtschaft unterstützt, ohne dass das Soziale dabei zu kurz kommt.

Luc Frieden hat Sie zum Fraktionspräsidenten ernannt, weil Sie bei den linken Oppositionsparteien mehr Akzeptanz genießen und damit konzilianter agieren können als ein wirtschaftsliberaler CSV-Abgeordneter. Würden Sie diese Aussage bestätigen oder wie sehen Sie ihre eigene Rolle innerhalb der CSV?

Mein sozialpolitisches Profil hat sicherlich dazu beigetragen, dass ich Fraktionspräsident wurde. Das war mir sofort klar, als ich gefragt wurde, ob ich das Amt übernehmen will. Es freut mich aber, dass meine Fraktionskollegen mich mit nur zwei Enthaltungen zum Vorsitzenden gewählt haben, weil es mir ermöglicht, direkt auf die Politik mit dem Koalitionspartner einzuwirken und wenn ich das Gefühl habe, dass sie zu weit geht, auch mal sagen kann: Bis hierher und nicht weiter.

Im Juli sagten Sie auf einer Pressekonferenz, bei der Zusammenarbeit mit der DP-Fraktion sei noch „Luft nach oben“. Was meinten Sie damit?

Dass wir noch mehr miteinander reden müssen, damit jeder die Ideen des anderen erkennt. In den letzten Wochen ist aber einiges passiert, wir haben verschiedene Themen in interfraktionellen Sitzungen diskutiert. Was auch sein musste, damit die Menschen verstehen, welche Themen aus dem Koalitionsabkommen wir in den Mittelpunkt stellen und welche nicht. LSAP und Grüne haben uns in den vergangenen Monaten scharf kritisiert, doch ich bin überrascht, dass gerade sie nun von der CSV erwarten, dass wir in sechs Monaten umsetzen, was sie selbst in den vergangenen zehn Jahren nicht gegenüber der DP durchsetzen konnten.

Der soziale Flügel der CSV hatte stets auch gute Verbindungen zum Bistum und zur Caritas. Wie erleben Sie das, was seit einigen Wochen bei Caritas Luxemburg passiert?

Ich bin überrascht darüber, was bei der Caritas passiert ist. Als Nicht-Finanzexperte bin ich aber noch überraschter, dass zwei systemische Banken so hohe Transaktionen zulassen konnten. Wenn ich Geld ins Ausland überweise, ruft meine Bank mich an, um nachzufragen, ob ich darüber Bescheid weiß. Deshalb verstehe ich nicht, wieso die Banken das bei der Caritas nicht taten und ihr zudem noch millionenhohe Kreditlinien gewährten. Bei der Caritas selbst stellen sich natürlich auch viele Fragen, vor allem hinsichtlich des Managements. Bevor der Staat seine Verantwortung übernimmt, muss erst sichergestellt sein, dass die Löcher, die in den vergangenen Monaten entstanden sind, gestopft werden. Vor allem ist aber wichtig, dass die Aktivitäten der Caritas weitergeführt werden.

Premierminister Luc Frieden kündigte gestern an, eine neue Caritas-Struktur ohne das aktuelle Management zu schaffen. Sollte das Bistum, das bislang die Mitglieder des Verwaltungsrats ernannte, in dieser Struktur noch weiterhin eine Rolle spielen?

Es sollte auf jeden Fall geklärt werden, wer in diesem Verwaltungsrat sitzt. Für mich ist wichtig, dass der Staat darin vertreten ist, damit er die Kontrolle über das Geld behält, das er der Caritas zur Verfügung stellt. Auch andere Beispiele haben in den vergangenen Monaten gezeigt, dass in den Verwaltungsräten von Vereinen und Stiftungen Menschen sitzen müssen, die wissen, wie man einen Betrieb führt. Und es müssen strengere Regeln eingeführt werden.

Die LSAP hat vergangene Woche einen Gesetzesvorschlag vorgestellt, der ein strengeres Regelwerk vorsieht. Unterstützt die CSV diesen Vorschlag?

Ja, aber ich war überrascht, als ich sah, dass der frühere Wirtschaftsminister Franz Fayot den Gesetzesvorschlag mit vorgestellt hat. In den letzten Jahren hatte er die Möglichkeit, diesbezügliche gesetzliche Anpassungen vorzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Vorschlag der LSAP der Weisheit letzter Schluss ist, aber er geht auf jeden Fall in die richtige Richtung.

Die Caritas war nicht nur wegen der Herausgabe des Sozialalmanachs ein sozialkritischer politischer Akteur. Kommt der Skandal der Regierung gelegen, um sich eines einflussreichen Kritikers zu entledigen?

Meines Wissens nach wurde der Sozialalmanach seit dem Weggang des früheren Vorsitzenden des Direktionskomitees Robert Urbé vor drei Jahren nicht mehr veröffentlicht. Die Publikation war stark mit seiner Person verbunden. Davon abgesehen kritisieren viele NGOs die Regierung, was ihnen – genau wie den Gewerkschaften – auch zusteht. Ich denke, dass sie auch weiterhin den Finger in die Wunde legen werden, wenn es um die Verteidigung ihrer Kundschaft geht.

Kurz vor Weihnachten kritisierte die Caritas im Radio 100,7 auch das Bettelverbot in der Stadt Luxemburg. Justizministerin Elisabeth Margue hat es nun unmissverständlich aus dem Code pénal gestrichen, doch Innenminister Léon Gloden will es über den verschärften Platzverweis ordnungsrechtlich wieder einführen. Steht die CSV-Fraktion dahinter?

Über das Bettelverbot haben wir auch intern kontrovers diskutiert. Ich verstehe, dass verschiedene Dinge gemacht werden mussten, überrascht hat mich aber die Art und Weise, wie das passiert ist. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass neben den Ankündigungen von Elisabeth Margue und Léon Gloden Familienminister Max Hahn (DP) von Premierminister Luc Frieden damit beauftragt wurde, gemeinsam mit anderen Partnern ein Programm zur Bekämpfung der Armut auszuarbeiten. Ich bin weiterhin der Überzeugung, dass wir die Armut und nicht die Armen bekämpfen müssen.

Luc Laboulle
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