Dass einer literarischen Rekonstruktion der eigenen Herkunft das Etikett eines „Romans“ aufgeklebt werden soll, leuchtet nicht immer ein. Das Leben folgt keinem Plot, es addiert Momente mehr als es sich als Gesamtzusammenhang entwickelt, meistens stoßen einem die Dinge eher zu, als dass man sie sich ausdenken würde. Demgegenüber steht der Roman als etwas Zielgerichtetes, Planvolles. Monika Helfer schafft mit ihrem Buch beides: Die Bagage ist eine Rückbesinnung auf die Zufälligkeit einer gegebenen Herkunft, auf ein feststehendes Da und Dort, betreibt aber auch eine kluge Auswahl aus den Gegebenheiten dieser Herkunft und stellt sie in einer bestimmten Hinsicht so in Frage, dass der Leser gespannt der Auflösung entgegensieht.
„Hier, nimm die Stifte, male ein kleines Haus“, so beginnt die Annäherung der Autorin an die Familie ihrer Mutter, wie eine Aufforderung an sich selbst, die Erinnerungen aus der Kindheit hervorzuholen, festzuhalten, zu sortieren. Die Aufgabe ist schwierig, denn das Wissen um diese Vorfahren besteht vor allem aus Erzähltem, nicht aus eigener Anschauung. Auch geht es hier nicht um Nostalgie oder naive Romantisierung: „Die Wirklichkeit weht hinein in das Bild, kalt und ohne Erbarmen“. Die Vorstellung vom kleinen Haus am Bach im Schatten des Berges will keinen Alpenkitsch bedienen, sondern ist eben der Ort, an den es halb zufällig und halb aus Not die Vorfahren der Autorin verschlagen hat. Die Familie lebt arm und abseits auf dem Berg; sie wird als „Bagage“ mit Argwohn bedacht. Der Mann, Josef, ist berüchtigt für seine „Geschäftchen“, Maria, die Mutter, für ihre herausragende Schönheit, wenigstens einige der Kinder für ihre Durchtriebenheit. In einer gegenläufigen Bewegung zu dieser Ausgrenzung ihrer Verwandtschaft durch die Dorfbewohner ergibt sich der erzählerische Anlass für Helfer vor allem dadurch, dass sie sich dieser „Bagage“ unbedingt zugehörig wissen möchte. Vier Kinder haben die Moosbruggers zu dem Zeitpunkt, der die Autorin besonders interessiert; das fünfte Kind wird ihre Mutter Grete sein. Sie wird während des Ersten Weltkriegs geboren, den Josef größtenteils im Feld verbringt. Ist er tatsächlich der Vater? Die Leute im Dorf spekulieren und rechnen nach; für sie ist schnell ausgemacht, dass das unmöglich der Fall sein kann. Josef selbst, so wird es Grete ihrer Tochter später erzählen, habe nichts mit ihr zu tun haben wollen, sie Zeit seines Lebens nie angesehen und nie das Wort an sie gerichtet.
Diese Unsicherheit in ihrem Stammbaum aufzuschlüsseln, macht Helfer zur Prämisse ihrer Erzählung. Es gilt, an den richtigen Stellen nachzufragen, zu sammeln, zu rekonstruieren, bis das Bild der eigenen Herkunft über die Umrisse der kindlichen Strichzeichnung hinausgelangen kann. Die epischen Ausmaße des klassischen Familienromans werden dabei überhaupt nicht anvisiert. Helfer dringt ohne Umschweife in den Kern dessen vor, was ihre Verbundenheit zu ihrer Verwandtschaft ausmacht. Sie verzichtet auf Beiwerk, erzählt individuell, nicht exemplarisch. Dem entspricht eine harte, klare, zuweilen ironische Sprache, eine sparsame, aber einprägsame Bildlichkeit. So sagt Helfer von ihrem Onkel: „Seine Eltern und seine Geschwister hielten nicht viel von ihm, abgesehen von seiner Arbeitskraft. Als wäre er ein Traktor.“
„Mater semper certa est“, lautet eine lateinische Redewendung; Mutterschaft ist über den Zweifel erhaben. Dieses Prinzip macht sich Helfer zu eigen, indem sie ins Zentrum ihrer Erzählung die Großmutter stellt, jene maßlos schöne Maria, die von allen Männern aus dem Dorf begehrt wird, angefangen beim Postboten, der Josefs Stellungsbefehl überbringt, bis hin zum Bürgermeister, der mit Josef befreundet ist und in dessen Abwesenheit auf Maria „aufpassen“ soll. An diese naheliegenden Möglichkeiten einer Vaterschaft denkt im Dorf jedoch niemand. Verdächtigt wird Georg, ein Mann aus Hannover, der sich zu der schönen Frau durchfragt, nachdem er Maria in einem Nachbardorf auf dem Markt begegnet ist.
Besinnt sich Helfer auf Maria selbst, auf das, was die Großmutter in dieser Zeit getan oder gedacht haben mag, verdrängen die Sorgen um ihre Kinder ihr Abwägen zwischen den Zudringlichkeiten der Männer und dem eigenen Begehren. Zwar helfen die Kinder im Haus und auf dem Hof, aber auf ein wirkliches Auskommen ist in Abwesenheit des Vaters nicht zu hoffen. Maria bleibt keine andere Wahl, als sich die Zumutungen ihrer Verehrer zunutze zu machen, damit Essen auf den Tisch kommt. Am Ende wird die Frage nach der Vaterschaft Gretes dadurch nebensächlich; die „Bagage“ besteht in der Zeit, aus der Helfer berichtet, ohnehin mehr aus Maria und ihren Kindern als in einem durch eine Vaterfigur ergänzten Familienbild. Aus diesem Grund nehmen in Helfers Schilderungen auch die Onkel und Tanten einen besonderen Platz ein; an ihren Eigenschaften arbeitet sich die Autorin ab, während ihr Vater zwar in den Erzählungen vorkommt, aber blass und unbestimmt bleibt, fast wie ein Gast in ihrer Biografie.