Große Koalition in Deutschland

Götterdämmerung

d'Lëtzebuerger Land vom 16.02.2018

Er gehe ohne Groll und Bitterkeit, sagte Martin Schulz, ehemals Vorsitzender SPD. Dann verließ er einsam und endgültig das Berliner Willy-Brandt-Haus, die Parteizentrale. Er winkte nicht einmal zum Abschied. Hier war er vor nicht einmal einem Jahr als Messias der deutschen Sozialdemokratie, beinahe auch Heilsbringer der europäischen Linken eingezogen. Einstimmig wurde er damals zum Chef der Genossinnen und Genossen gewählt, nun kam er mit seiner Demission der einstimmigen Amtsenthebung durch den Parteivorstand zuvor. Es war ein hartes Jahr für Martin Schulz, gefeiert, dann gefeuert, angetreten, um den Generationenwechsel in der SPD einzuleiten und die Partei zu Erfolgen zu führen, gescheitert an einer Vielzahl taktischer Fehler, Wortbrüchen und einem erfolglosen Wahlkampf. Meinungsforscher sehen die SPD in ihrer Sonntagsfrage – „Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ – bei nur noch 16 Prozent. Knapp vor der rechtspopulistischen AfD. Vor allen Dingen ist Martin Schulz aber vor dem Intrigenstadel Willy-Brandt-Haus gescheitert und einer Partei, in sich mehr mit sich selbst beschäftigt, denn mit Politik, dem Land und seinen Menschen.

Die SPD ist dort angekommen, wo fast alle europäischen Linksparteien stecken: in der Modernisierungsfalle. In ihren Programmen, Wahlversprechen und Politreden kämpft sie noch immer für die Arbeiterklasse, die sich einst in den Fabrikhallen von Manchester erfand und an brennenden Ölfässern zum Klassen- und Arbeitskampf aufrief. Doch die Zeiten haben sich verändert. Ein Angebot für moderne und zukünftige Arbeitsrealitäten, die sich durch die Digitalisierung radikal wandeln werden, hat die Sozialdemokratie nicht. Konservative Parteien auch nicht, doch diese punkten damit, dass sie sich ohnehin gegen jedwede Veränderung stemmen.

Der digitale Wandel verändert immer mehr Berufe. Ohne Computer, ohne Internet sind viele nicht mehr denkbar, stünde die Arbeit in vielen Betrieben still. Handwerker fertigen mit digitaler Hilfe Möbel und Ersatzteile für Maschinen, Architekten und Stadtplaner erstellen Baupläne, die sie früher aufwändig mit der Hand zeichnen mussten. Einerseits führen neue Technologien dazu, dass Arbeitnehmer flexibler und unabhängig vom Ort arbeiten können. Zudem schafft die Digitalisierung neue Arbeitsplätze und bisher unbekannte Berufe – wie den Social Media-Manager, den Content-Manager oder Informatiker. Andererseits kommt es zu einer Abwertung der menschlichen Arbeit. Sie wird durch intelligente Software in einigen Bereichen überflüssig, oder zumindest finanziell abgewertet. Die Menschen kaufen im Internet ein, erledigen dort ihre Bankgeschäfte, finden einen Handwerker zu Niedrigpreisen. Diese können über Internetplattformen zwar leichter Auftraggeber finden, finden sich aber gleichzeitig in einem Preiskampf wieder, der sie in der Folge vom Zugang zu sozialen Sicherungssystemen abschneidet. Andere Arbeitnehmer erkranken stressbedingt durch die digitale Dauererreichbarkeit, die ihnen abverlangt wird. Hinzu kommen Aspekte des Datenschutzes. Hier verlangt die Arbeitswelt nach Regeln, die die Digitalisierung human und sozial verträglich gestaltet.

Im Grunde genommen ein Politikfeld für die Sozialdemokratie, geht es doch um die Gestaltung der künftigen Arbeitswelt, Rechte von Arbeitnehmern, der Ausgestaltung von gesellschaftlichen Utopien. Doch hier gibt sich die Linke konservativer als die Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums. Man lebt eine überkommene Vorstellung zum Beispiel von Gestaltung und Mitgestaltung in Gesellschaft und Politik. Statt wie früher sich für Trends und Entwicklungen einzusetzen, ziehen sich die Genossen auf bekannte Positionen und vergangene Zeiten zurück. Und wenn dies nicht mehr ausreicht, dann bleibt lediglich die eigene Nabelschau, um ein Quäntchen Aufmerksamkeit zu bekommen. Statt eine Abstimmung im Internet über die künftige Regierungsbeteiligung zu organisieren, wurden diese Woche Wahlunterlagen und Koalitionsvertrag per Post verschickt – mit frankiertem Rückumschlag.

Nun entscheiden wieder einmal die Mitglieder der SPD über den politischen Fortschritt Deutschlands. Während die Parteioberen das Weiter-So des Koalitionsvertrags als Erfolg verkaufen wollen, fordern die Gegner der Großen Koalition ein Nein, ohne einen Gegenvorschlag zu unterbreiten. Sie wollen eine Erneuerung von Politikstil und Personal – in der eigenen Partei, nicht im Land. Doch das eigentliche Erschreckende ist, dass die Gegner der Großen Koalition sich der gleichen Themen, der gleichen Muster und der gleichen innerparteilichen Seilschaften bedienen, um an ihr Ziel zu kommen, wie diejenigen, die sie ersetzen möchten. Sollten sie in zwei Wochen die Ablehnung des Koalitionsvertrags erzielen und eine innerparteiliche Revolution anzetteln, wird an deren Ende vielleicht ein helleres Rot im Parteilogo stehen. Nicht aber ein Vorschlag, wie man mit virtuellen Arbeitswelten und digitalisierten Arbeitsprozessen umgehen kann oder soll. Und dabei ist Digitalisierung nur ein Beispiel. Pflege, Gesundheit und Europa sind weitere, ebenso drängende. Dann kann es ein kleiner Trost sein, dass hier die gesamte deutsche Politik scheitert, in dem sie auf ein Heimatministerium setzen möchte, statt die Digitalisierung zur Chefsache zu erklären.

Martin Theobald
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