Aus der Räuberpistole wird eine Staatsaffäre – und abenteuerlicher könnte sie kaum sein: Im Juni meldete der Zahlungsdienstleister Wirecard Insolvenz an, da – knapp und kurz zusammengefasst – in seiner Bilanz zwei Milliarden Euro fehlten, die angeblich bei einer philippinischen Bank hinterlegt sein sollten, um dem Geschäftsmodell des Unternehmens in Asien dienlich zu sein, dort aber wohl nie eingezahlt wurden. Was zunächst als ein Fall von Hybris in der schicken Scheinwelt des Internets erschien, entwickelt sich nun zu einem Skandal, der auch das politische Berlin erschüttert.
Zunächst stand dort lediglich Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Zentrum der Aufmerksamkeit, dann musste auch das Bundeskanzleramt einräumen, dass es für Wirecard in China die Werbetrommel rührte. Kanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich soll bei einem Besuch in Peking für das Unternehmen Klinken geputzt haben – wie es im Volksmund heißt. Eingefädelt hatte den Deal der ehemalige Sunnyboy der deutschen Politik Karl-Theodor von und zu Guttenberg, ehemals Bundeswirtschaftsminister, dann Bundesverteidigungsminister in den damaligen Kabinetten von Merkel. Er bat die Kanzlerin, den Markteintritt von Wirecard in China „zu flankieren“. Nach den Lobbyismus-Vorwürfen gegen Philipp Amthor, aufstrebender CDU-Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern, in den Wochen zuvor, zeigt auch die Wirecard-Affäre, wie leicht es Klinkenputzer auf dem Berliner Parkett haben.
Doch die Geschehnisse um Wirecard haben noch eine weitaus größere Dimension, in deren Fokus Finanzminister Olaf Scholz als oberster Dienstherr der deutschen Finanzaufsicht steht. Er war seit etwa eineinhalb Jahren über den Verdacht informiert, dass bei diesem Vorzeige-Start-up einiges schieflaufen könnte: Marktmanipulation, Geldwäsche, Bilanzfälschung, irreführende Rechnungslegung, Scheingeschäfte. Die Liste der Gerüchte um Wirecard war lang und wurde oftmals lautstark von der Presse vorgetragen, womit sich die Frage stellt, warum Scholz die Angelegenheit nicht umgehend zur Chefsache machte.
Dieses Versäumnis mag sich damit erklären lassen, dass der Finanzminister zum Amtsantritt eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Wirtschaftsprüfer von EY – ehemals Ernest & Young – auf dem Tisch liegen hatte. Scholz fing im März 2018 an, im April lieferten die Prüfer ihren alljährlichen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk ab: Alles sei bestens mit der Bilanz von Wirecard. Eine Prüfung der Prüfer ist unüblich. Ein kritisches Hinterfragen ihrer Dienstleistung auch. Scholz und die zuständigen Mitarbeitenden im Ministerium hätten schon damals genauer hinschauen müssen, denn die Flecken auf der testierten weißen Weste waren kaum zu verdecken gewesen. Dokumentiert ist das im gerade veröffentlichten Sachstandsbericht des Finanzministeriums. Dieser Bericht ist eine Bestandsaufnahme eines jahrelangen, kollektiven Versagens von Ministerien, Aufsichtsbehörden und Prüfungsgesellschaften. Aber es war Wollen und Willen der deutschen Wirtschaft und Politik ein Vorzeigeunternehmen in der Internetwelt zu haben, um mit all den Silicon Valleys auf der Welt Schritt halten zu können – koste es, was es wolle.
Schon seit 2008 hatte es kritische Presseberichte zu Wirecard gegeben. Seit 2010 hatte die Finanzaufsicht Sonderprüfungen veranlasst, damals übrigens noch unter Minister Wolfgang Schäuble. Immer wieder wurde überlegt, wie und von wem die international kompliziert verzweigte Struktur des milliardenschweren Konzerns beaufsichtigt werden sollte. Wirklich von der Bezirksregierung Niederbayern? In dessen Zuständigkeitsbereich liegt die Wirecard-Zentrale. Und warum hielten es weder Schäuble noch Scholz augenscheinlich für nötig, den Meldungen zu den Unregelmäßigkeiten nachzugehen? Oder die Prüfung in andere Hände zu geben? Sie hätten gewarnt sein müssen von den großen Skandalen um Geldwäsche und Zinsmanipulation bei der Deutschen Bank oder um Cum-Ex-Steuerbetrüge. Beinahe grotesk mutet es an, dass der wichtigste Staatssekretär von Scholz noch am 27. Juni 2019 bei der chinesischen Regierung für Wirecard warb – und die Finanzaufsicht das Unternehmen gut zwei Wochen später unter intensive Geldwäscheaufsicht stellte. Das lässt vermuten, dass im Bundesfinanzministerium zu diesem Fall wenig miteinander kommuniziert wurde.
Hinzu kommt, so legt es der Sachstandsbericht nahe, dass das Ministerium die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) immer wieder zum Jagen habe tragen müssen: Dort nachschauen, da schneller machen. „Mag sein, dass das Finanzministerium vom eigenen Versagen ablenken will. Vielleicht aber ist es ein Indiz dafür, dass es ein über Jahre gewachsenes Netzwerk aus Prüfern, Managern und Beamten gegeben hat, eine vertrauliche Interessengemeinschaft, in der sich Aufsicht und Finanzindustrie so nah waren, dass man nicht mehr so genau hinschaute“, bewertet etwa die Süddeutsche Zeitung diese Gemengelage.
Die Bafin weist alle Anschuldigungen zurück. Felix Hufeld, Chef der Behörde gegenüber der Welt am Sonntag: „Wir erfüllen genau die Aufgaben, die uns der Gesetzgeber vorgibt – alles andere ist in einer Demokratie nicht zulässig.“ Die Bafin könne nicht einfach machen, was sie wolle. „Menschen, die behaupten, dass so ein Betrug mit einer anderen Aufsicht nicht möglich gewesen wäre, streuen den Bürgern Sand in die Augen“, so Hufeld weiter. Er sieht bei einer besseren Regulierung von Tech-Unternehmen vor allem den Gesetzgeber in der Pflicht, denn die Bafin habe nur kleine Teile von Wirecard direkt beaufsichtigt. „Der aufsichtliche Werkzeugkasten muss hier nachgeschärft werden“, sagt Hufeld. Will man diese Strukturen aufbrechen, muss man die Organisation reformieren. Olaf Scholz könnte der ohnehin gelegen kommen, um eigene Versäumnisse kleiner erscheinen zu lassen. Nun da er als möglicher Kanzlerkandidat seiner Partei warmläuft, dürfte ihm die Affäre um Wirecard besonders ungelegen kommen. Er steht zum dritten Mal in einem Finanzskandal. In seine Zeit als Erster Bürgermeister von Hamburg fallen die Vorwürfe um unlautere Cum-Ex-Geschäfte der HSH-Nordbank und der Warburg Bank. Nun noch Wirecard. Es heißt im Volksmund, dass aller guten Dinge drei sind. Vor allen Dingen für einen Untersuchungsausschuss.