Das christlich-soziale Jahrhundert ist zu Ende. Zuerst ruinierte sich der LCGB. Die CSV wurde eine Partei wie die anderen. Die Kirche ist privatisiert. Das Luxemburger Wort ist verkauft. Nun hat es die Caritas erwischt.
Im 19. Jahrhundert zermürbte die bürgerliche und industrielle Revolution die Katholiken. Papst Leo XIII. rüttelte sie 1891 wach mit seiner Enzyklika Rerum Novarum: Sie sollten ihre gesellschaftliche Stellung zurückerobern. Die Arbeiterklasse nicht den Sozialisten überlassen.
Hierzulande wurden Laienverbände gegründet. Für jedes Geschlecht, Alter, Gewerbe. Stets unter dem Vorsitz von Klerikern. Im Ersten Weltkrieg verteilten gottesfürchtige Bürgerinnen Armensuppen, sammelten Kleider, organisierten Ferienkolonien.
Die Initiativen des Katholischen Frauenbunds wurden in der Weltwirtschaftskrise 1932 zur Caritas vereint. Sie blieb ein lockerer Verband frommer Vereine. Aus „Angst vor neuen Initiativen, Eigenbrötelei, mangelnde[r] Bereitschaft zur Kooperation“ (Cinquantenaire de la Caritas, Luxemburg, 1982, S. 60).
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der CSV-Staat politisch konservativ und wirtschaftlich liberal. Die Verwertung der Arbeitskraft regelte er mittels Arbeitsgesetzen und Sozialversicherung. Die noch nicht oder nicht mehr verwertbare Arbeitskraft überließ er der kirchlichen Caritas: Kinder, Alte, Kranke, Behinderte, Arme. Und dem weltlichen Roten Kreuz.
Outgesourcte Wohlfahrt ist kein Recht. Sie ist eine Gnade. Sie ist flexibler als institutionalisierte. Die Löhne sind niedriger. Ehrenamtliche arbeiten kostenlos. Sie macht ökonomische Probleme zu diakonischen.
In der Nachkriegszeit wurde die Wohlfahrt professionalisiert, diversifiziert. LSAP-Familienminister Benny Berg konventionierte Betreuungseinrichtungen. Mit der Wirtschaftskrise in den Siebzigerjahren nahmen Arbeitslosigkeit, Armut, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit zu. Mit den Kriegen die Zahl der Asylbedürftigen. Sozialarbeiterinnen der Caritas stürzten sich in den Kampf gegen das gesellschaftliche Elend.
Der Sozialstaat bleibt die wichtigste Legitimation staatlicher Herrschaft. Das garantierte Mindesteinkommen, die Förderung privater Entwicklungshilfe wurden eingeführt. Die Caritas gründete Vereine, um neue staatliche Aufträge zu erhalten. Keine Marktanteile an das Rote Kreuz zu verlieren. Öfters trafen sich CSV, LCGB, Bistum, Luxemburger Wort und Caritas, um über die Generallinie des CSV-Staats zu beraten.
1998 kamen das ASFT-Gesetz, 1999 die Pflegeversicherung, 2005 die Maisons relais. Um die „Exportabilität“ zugunsten von Grenzpendlern zu verhindern, wurden Geld- durch Sachleistungen ersetzt. Die Caritas erfuhr einen Expansionsschub: „Au 31 décembre 2022, les quatre associations [...] occupaient 1.041 collaborateurs·trices. A ce nombre s’ajoutent les 368 bénévoles [...] ainsi que les 215 stagiaires et apprentis·ies“ (Rapport annuel 2022, S. 22). Caritas war an der Gründung von Hëllef doheem beteiligt. Die zählt heute 2 000 Angestellte.
Die Caritas wurde ein Wohlfahrtskonzern. Der dem Staat und den Gemeinden Dienstleistungen verkauft. Aufgeteilt in gemeinnützige Vereine, die in den Bilanzen bald konsolidiert, bald entkonsolidiert erscheinen. In repräsentativen Direktionsbüros antworteten Kleriker auf soziale Probleme mit Managerismus. Bis eine Direktorin die Blase zum Platzen brachte.
Bereits outgesourcte Sozialleistungen lassen sich leicht zu Gewinnquellen machen oder abschaffen. Überlegte sich vielleicht Luc Frieden. Der Premier drohte am 24. Juli, der Caritas den Geldhahn zuzudrehen. Dann fürchtete er einen Aufstand von Sozialarbeiterinnen, Gewerkschaften, Hilfsbedürftigen, Bistum, kirchennahen CSV-Notablen.