ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Zehn Gebote

d'Lëtzebuerger Land vom 23.08.2024

Vergangenen Monat veröffentlichte die Abgeordnetenkammer zehn Richtlinien für die Automatisierung geistiger Arbeit. Der knappe Text trägt keinen Titel, kein Datum. Wer hieß ihn gut? Das Kammerbüro, die Präsidentenkonferenz, das Plenum, der Chatbot? Die Web-Seite des Parlaments nennt ihn „Charte sur l’intelligence artificielle“.

Die Bezeichnung wurde 1955 von dem US-Mathematiker John McCarthy erfunden. Sie trügt. Sie wurde vor zwei Jahren durch das Computerprogramm ChatGPT populär. GPT steht für „generative pre-trained transformer“.

Dank leistungsfähigerer Computer können solche Programme mit riesigen Mengen von Texten und Bildern trainiert werden. Um daraus Muster zu errechnen, die Texte und Bilder zu transformieren und nach Wahrscheinlichkeit zusammengesetzt zu generieren. Gefiltert von einem Proletariat unsichtbarer Clickworker in Kenia, den Philippinen. Maschinenlernen automatisiert die Produktion von Computerprogrammen, Schriftstücken, Krebsdiagnosen, das Online-Shoppen, die Bombardierung von Gaza. Es spart Lohnkosten.

Künstliche Intelligenz soll das nächste große Geschäft werden. Bis zu ihrer Rentabilität muss sie mystifiziert werden. „Quæ ultra modum excederent scientiam meam“ (Job, 42.3). Die Zehn Gebote des Parlaments verkünden: „2° Toute utilisation des systèmes d’IA apporte une plus-value pour la Chambre des Députés ou ses missions.“

Die Charta beschränkt sich auf Maschinenlernen und Große Sprachmodelle in der Parlamentsverwaltung. Um schneller Wortprotokolle für das Chamberblietchen zu produzieren. Kühn geht die Rede von „décisions prises par les systèmes retenus“. Die Charta verspricht Umsicht, Kontrolle, Transparenz. Gleich zweimal den Respekt des „droit applicable“ – der eigenen Gesetze.

Eine gesetzgebende Körperschaft hätte mehr zu regeln: Wie Künstliche Intelligenz im Rahmen der Lohnarbeit, Warenwirtschaft, Gafam-Monopole eingesetzt wird. Wie sie Lenkung, Überwachung, Verständigung am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit automatisiert.

Maschinenlernen benötigt zum Trainieren gewaltige Datenmengen. Die Betreiber sammeln sie, ohne zu zahlen. Das Parlament verabschiedete einstimmig das Gesetz vom 29. November 2021. Es überlässt Privatfirmen kostenlos Daten von Verwaltungen und öffentlichen Einrichtungen. Im Gegenzug brauchen Privatfirmen ihre Daten nicht zur Verfügung zu stellen. Der Verlag Larcier verkauft die Gesetzestexte des Mémorial im Internet.

Materielle Grundlage des Maschinenlernens sind Serverfarmen für Cloud-Computing. Der Bedarf an Rechenkapazitäten und Strom ist enorm. Selbst die Rechenfabrik von Google in Bissen kommt wieder ins Gespräch.

Geistige Arbeit wird so zugerichtet, dass sie automatisierbar wird. Dafür sorgt der liberale Erziehungsminister Claude Meisch schon in den Schulen. Künstliche Intelligenz bekräftigt die Hierarchisierung der Arbeitsteilung. Der christich-soziale Arbeitsminister Georges Mischo hat das Arbeitsrecht anzupassen. Der Staatsbürger wird zum Kunden. Die Beamtin am Schalter wird durch einen Chatbot ersetzt. Das Koalitionsabkommen kündigt die „Comparution immédiate“ für Arme an. Künstliche Intelligenz verspricht ihre Vorverurteilung mit Predictive Analytics. Gefolgt von der automatisierten Rechtsprechung mit Unterstützung von PwC.

Das Parlament will Geschäfte heimischer Firmen mit Künstlicher Intelligenz nicht stören. Es will der EU-Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz nicht vorgreifen. Sie soll in zwei Jahren in Kraft treten. Die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts hat Vorrang. Von allen Regierungsmitgliedern ist Digitalisierungsministerin Stéphanie Obertin die unbekannteste.

Romain Hilgert
© 2024 d’Lëtzebuerger Land