Am Abend des 11. Juni, als klar war, dass Déi Lénk zwar in Schifflingen den Einzug in den Gemeinderat geschafft hatte, in der Stadt Luxemburg, Esch/Alzette und Sanem jedoch jeweils einen ihrer beiden Sitze im Gemeinderat verlieren würde, tanzten ihre Kandidat/innen, Mitglieder und Sympathisant/innen im Café Streik zur 80-er-Jahre-Musik von DJ Fred, als gebe es kein Morgen mehr. Am 8. Oktober, als sie in allen vier Bezirken verlor und ihr schlechtestes Resultat seit 2009 einfuhr, veranstalteten sie im Restaurant Chiche auf dem Limpertsberg ein Karaoke. Passend zu ihrem Wahlslogan hatte Déi Lénk bei den Nationalwahlen in diesem Jahr alles zu gewinnen.
An Stimmen hat sie verloren. Landesweit 1,5 Prozent (nach der Berechnungsmethode der gewichteten theoretischen Prozentsätze sind es 1,4 Prozent), im Zentrum, wo sie 2018 noch am meisten zugelegt hatte und auf fast sechs Prozent kam, fiel sie vor drei Wochen auf unter vier Prozent; den zweiten Sitz, den sie seit 2013 im Parlament hat, konnten David Wagner und Ana Correia Da Veiga um Haaresbreite verteidigen. Außer im Osten verlor Déi Lénk vor allem an Listenstimmen: gegenüber 2018 mehr als 14 000 im Zentrum und über 22 000 im Süden. Doch auch bei den persönlichen Stimmen fielen die Verluste für ihre Erstgewählten Marc Baum (minus 900) und David Wagner (minus 1 550) deutlich aus.
Am Montagnachmittag sitzt David Wagner, weißes Hemd und graue Jeans, im Büro der Sensibilité politique in der Rue Philippe II und sucht nach Erklärungen. Der Anteil der Nicht-Wähler/innen sei inzwischen ähnlich hoch wie in Ländern ohne Wahlpflicht, was wohl auf eine generelle Abneigung gegenüber der Politik zurückzuführen sei, insbesondere in der Arbeiterklasse. Uneindeutige (und zum Teil widersprüchliche) Positionen zur Corona-Politik, zur Nato, zum Krieg in der Ukraine (und nun auch zum Israel-Palästina-Konflikt) sieht der Abgeordnete nicht als ausschlaggebend für den Stimmenverlust an. Zwar hätten einzelne Aussagen Polemik in den sozialen Medien ausgelöst, doch das meiste davon spiele sich innerhalb einer kleinen Bubble ab, elektorale Folgen habe das wohl nicht gehabt. Eher hätten sich mehr Menschen für den vote utile entschieden und die Sozialisten gewählt, die seit Jahrzehnten behaupten, es sei weniger schlimm mit ihnen in der Regierung als ohne sie. Nach der vor drei Wochen im Land veröffentlichten Regressionsanalyse sei die LSAP in den Gemeinden am stärksten gewesen, wo der Medianlohn am niedrigsten sei; er gehe davon aus, dass es bei der Linken ähnlich sei, sagt Wagner.
Die Regressionsanalyse erlaubt jedoch keine eindeutigen Aussagen zu Déi Lénk. Eine Korrelation mit Gemeinden mit niedrigen Medianlöhnen ist lediglich bei LSAP, KPL, Piraten und ADR festzustellen, auch wenn die Linke bei Arbeitslosen, Revis-Empfänger/innen, Beschäftigten in Niedriglohnsektoren und Menschen mit geringer Schulbildung etwas besser abgeschnitten zu haben scheint als vor fünf Jahren. Signifikant ist der Unterschied zu 2018 aber lediglich in der Gruppe von Menschen, die nach drei Jahren die Sekundarschule verlassen haben. Insgesamt spricht Déi Lénk eher Beamte und Intellektuelle mit Uniabschluss als Arbeiter/innen an. Ein bisschen auch Arbeitslose ohne Schulabschluss. Und vielleicht noch Student/innen.
Die besten Resultate erzielt die Partei in Städten und größeren Gemeinden, in denen sie eine aktive Lokalsektion hat, bei den Kommunalwahlen antrat und im Gemeinderat vertreten ist. In ihrer Hochburg Esch/Alzette, in Sanem, Düdelingen, Luxemburg, Differdingen und Schifflingen (wo ihr Gemeinderat Admir Civovic nach der Wahl zur LSAP zurückgekehrt ist und als nicht ganz Unabhängiger im Gemeinderat sitzt). Oder in Mersch (und den angrenzenden Gemeinden Nommern und Fels), wo der Musiker Serge Tonnar und der Schriftsteller Jérôme Jaminet zwar bis Juni keine Liste zusammenbekamen und auch nicht bei den Kammerwahlen kandidierten, jedoch eine neue Sektion aufgebaut haben. Und in Bech, wo ihr Ko-Spitzenkandidat im Osten, Laurent Fisch, wohnt. Schlecht schnitt sie in ärmeren Gemeinden im Norden wie Vianden, Ulflingen oder Wintger ab, wo sie kaum noch Kandidat/innen und Militanten hat und das Terrain der ADR überlässt.
Wäre die Linke insgesamt stärker, wenn sie in mehr Gemeinden aktiv wäre? David Wagner ist der Meinung, dass es nicht sinnvoll sei, das ganze Land abzudecken. Die nächsten fünf Jahre würden bitter, analysiert der Zentrumsabgeordnete: Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, der Kapitalismus sei in der Krise, die europäische Demokratie ebenfalls, in Frankreich schränke eine Allianz aus bürgerlichen Kräften und Rechtsextremen das Demonstrationsrecht stark ein. In Spanien und Portugal hat die Linke verloren, in Deutschland hat sie sich gespalten, in Italien ist sie fast ganz verschwunden. Luxemburg sei davon noch weniger betroffen, doch auch hier haben die Wähler/innen die bürgerlichen Kräfte gestärkt.
Es gibt aber auch positive Beispiele linker Parteien in Europa. Etwa Jean-Luc Mélenchon, der mit seiner Nupes bei der Parlamentswahl in Frankreich vergangenes Jahr zweitstärkste Kraft wurde (im Parlament brachte das Bündnis anschließend jedoch keine gemeinsame Fraktion zustande). Oder der PTB in Belgien, der vor allem in Wallonien stark ist. In Österreich hat die KPÖ im April bei der Landtagswahl in Salzburg Grüne und Liberale überholt, in ihrer Hochburg Graz stellt sie seit zwei Jahren die Bürgermeisterin. Allerdings stehen PTB und KPÖ der KPL politisch näher als der Linken.
Im Gegensatz zur KPL, die nationalpolitisch schon seit 2004 keine Rolle mehr spielt und auch auf kommunaler Ebene nur noch in Rümelingen im Gemeinderat vertreten ist, hat Déi Lénk nach den verpatzten Gemeindewahlen reagiert und gezielt junge Menschen rekrutiert. Mit Alija Suljic hat sie einen Social-Media-Experten eingestellt, der vor allem Jugendliche auf TikTok ansprechen soll. 48 000 User habe man auf der Plattform erreicht, berichtet David Wagner stolz. Die Jugendorganisation der Partei, Déi jonk Lénk, hat sich, nach mehreren gescheiterten Versuchen in den vergangenen Jahren, vor einigen Monaten neu gegründet und befindet sich im Wiederaufbau. 20 bis 30 junge Menschen kämen derzeit zu den Versammlungen, sagt Mara Stieber, die bei den Kammerwahlen 14. im Zentrum wurde. Die meisten von ihnen haben einen Uniabschluss oder studieren noch. Ihre Mitstreiter/innen Anastasia Iampolskaia und Feliz Alijaj belegten bei den Parlamentswahlen Platz fünf und sechs im Zentrum, auch im Süden traten mit Alija Suljic, Mara Martins, André Marques und Ben Muller junge Linke an, die jedoch allesamt im Mittelfeld oder auf den hinteren Rängen landeten. Einige von ihnen nahmen Einfluss auf die Gestaltung der Wahlkampagne, bei der Déi Lénk versucht hat, mit einfachen Botschaften und konkreten Forderungen bestimmte Wählergruppen wie Arbeiter/innen und junge Menschen gezielt anzusprechen. Intern sei man sich einig, dass es trotz der Stimmenverluste vielleicht „dee beschte Walkampf ever“ gewesen sei, auf jeden Fall aber der beste seit 1999, als auch eine gute Dynamik geherrscht habe, sagt David Wagner. Man habe nur zu spät damit begonnen.
Die Abgeordnetenkammer dürfe nicht das Endziel der Linken sein, die sich nicht nur als Partei, sondern vor allem als politische Bewegung sieht, unterstreicht André Marques, neben Anastasia Iampolskaia Ko-Sprecher von Déi jonk Lénk. Es reiche nicht, einige Monate vor den Wahlen Kampagnen zu organisieren. In den nächsten fünf Jahren müsse die Partei nach dem Vorbild von Bernie Sanders, KPÖ und PTB „um Terrain“ präsenter sein, um die außerparlamentarische Opposition (Apo) weiter auszubauen. In den Gemeinden, wo sie vertreten ist, müsse sie stärker auf die Sorgen der Leute eingehen, mit ihnen ins Gespräch kommen, regelmäßig Konferenzen und andere Events mit ihren Abgeordneten und Gemeinderäten organisieren. „Wir müssen für ihre Probleme Lösungen finden, die mit unserer Ideologie übereinstimmen, und hartnäckig bleiben, bis die Probleme gelöst sind“, sagt Mara Stieber. Für sie darf die Linke sich nicht von rechten Parteien die Agenda diktieren lassen. Viele Talking Points der neuen Rechten seien inzwischen in der politischen Mitte angekommen, insbesondere in der Einwanderungs- und Sicherheitspolitik. Die Linke dürfe diesen Diskurs nicht übernehmen, sondern müsse eine utopische Alternative sein, die den Menschen wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. „Viele Menschen sympathisieren mit unseren Ideen, wählen dann aber eine große Partei. Die Leute, die wir repräsentieren wollen, sollen wissen, dass wir für sie arbeiten“, sagt Mara Stieber.
In manchen ihrer Forderungen stimmt Déi jonk Lénk überein mit den in der Partei eher marginalisierten „Alt-Trotzkisten“, die schon seit Jahren eine Stärkung der Apo fordern. Sie hatten auch davor gewarnt, auf kommunaler Ebene Koalitionen mit LSAP und Grünen einzugehen, da die Linke dabei nur verlieren könne. Im Endeffekt hat sich diese Frage eh nicht gestellt, denn in Esch/Alzette, der einzigen Gemeinde, wo ein solches Bündnis theo-retisch in Frage gekommen wäre, haben sowohl Linke als auch Grüne verloren, was eine Koalition mit den Sozialisten unmöglich machte.
In der Abgeordnetenkammer werden sich die drei „linken“ Parteien nun erstmals seit 2004 wieder gemeinsam in der Opposition wiederfinden. Um ihr Profil zu schärfen, dürften Grüne und LSAP weiter nach links rücken, damit könnten die Sozialisten auch für den OGBL wieder attraktiver werden, der in den vergangenen Jahren enger mit der Linken zusammengearbeitet hatte. Für Déi Lénk könnte es schwieriger werden, sich als ökosozialistische Alternative von den anderen beiden Parteien abzugrenzen. Sie kann Grünen und LSAP zwar die Versäumnisse aus der gemeinsamen Regierungszeit mit der DP vorhalten, doch wird sie notgedrungen öfter mit ihnen kooperieren müssen, um CSV und DP eine starke Opposition entgegenzusetzen.
Bei den Nationalwahlen von 2004, am Ende der letzten schwarz-blauen Koalition, verlor Déi Lénk ihren einzigen Sitz, während LSAP und Grüne gewannen. Vielleicht war das damals auch auf die Spaltung von KPL und Linke zurückzuführen, die fünf Jahre zuvor noch mit gemeinsamen Listen angetreten waren. Doch beide schnitten so schlecht ab, dass es wohl nicht einmal im Süden für ein Mandat gereicht hätte, wenn sie ihre jeweiligen Stimmenanteile addiert hätten.