Wieder „D’Atmosphär war esou wéi d’Wieder hei baussen ass, dat heescht et war eng exzellent Atmosphär“, schwärmte Formateur Luc Frieden (CSV) am Freitagnachmittag vor Journalist/innen, die wissen wollten, wie die beiden ersten Verhandlungstage zur Bildung der Koalition zwischen CSV und DP verlaufen sind. Die Hohen Beamten aus dem Finanzministerium hatten den Delegationsmitgliedern am Donnerstag erklärt, dass das Haushaltsdefizit höher sein werde als noch im Frühjahr gedacht. Radio 100,7 berichtete am Dienstag, die Finanzinspektion IGF gehe inzwischen davon aus, dass der Gesamtstaat in diesem Jahr ein Defizit von 1,5 Milliarden Euro aufweisen werde, der Zentralstaat eines von 2,2 Milliarden Euro. Bei der Vorstellung des Wachstums- und Stabilitätspakts hatte DP-Finanzministerin Yuriko Backes im April vorausgesagt, das Defizit des Gesamtstaats werde bei 1,22 Milliarden und das des Zentralstaats bei 2,3 Milliarden Euro liegen. Im Haushaltsentwurf 2023, den sie vor einem Jahr vorstellte, ging Yuriko Backes noch von 1,8 beziehungsweise 2,8 Milliarden Euro Defizit aus, doch dank gestiegener Steuereinnahmen unter anderem wegen der kalten Progression und bei den Akzisen wurden diese Prognosen nach unten revidiert. Allerdings war schon seit der letzten Tripartite gewusst, dass der Solidaritéitspak 3.0 noch zu höheren Ausgaben führen und für Steuererleichterungen kaum noch „Sputt“ bleiben werde.
Ganz überraschend kam das hohe Haushaltsdefizit für den Formateur und seine Delegationen demnach nicht. Neu an den in dieser Woche vorgestellten Zahlen ist wohl, dass die Finanzinspektion inzwischen davon ausgeht, dass die Staatsschuld nach 2026 auf über 30 Prozent des BIP steigen könnte (auf 32,4 Prozent im Jahr 2027). Die magische 30-Prozent-Grenze hatte DP-Finanzminister Pierre Gramegna schon 2013 als Bedingung für den Erhalt des Triple A ausgewiesen. Auch die CSV wollte daran festhalten. Als Luc Frieden noch Präsident der Handelskammer war, forderte er, dass die Staatsschuld nicht höher als 20 bis 25 Prozent des BIP sein dürfe.
Das hohe Haushaltsdefizit sei einerseits auf makroökonomische Faktoren wie Krieg und Energiekrise zurückzuführen, andererseits auf nationale Entscheidungen, die im Rahmen der Tripartite getroffen wurden, berichtete Formateur Frieden am Freitag. Die Beamten von der Adem und der IGSS hätten die Delegationen darüber aufgeklärt, dass die Zahl der Beschäftigten weniger hoch sei als „in der Vergangenheit“, was zur Folge habe, dass die Zahl derer, die in Rente gehen, schneller wachse als die neuer Beitragszahler, erzählte Frieden. Auch das passiert nicht ganz unerwartet, selbst wenn im Wahlkampf außer der ADR keine Partei sich mit der Rentenfrage auseinanderzusetzen traute.
Am Freitagvormittag hatte Statec-Direktor Serge Allegrezza davor gewarnt, dass es in diesem Jahr auch in Luxemburg zu einer Stagnation oder sogar Rezession kommen könne. In seinem Konjunkturflash vom September hatte das Statistikamt für das zweite und dritte Trimester 2023 zwar eine Verschlechterung der Wirtschaftsleistung gegenüber dem ersten festgestellt, für 2024 hatte es allerdings ein Wachstum von 2,5 Prozent des BIP vorausgesagt, gegenüber 1,5 Prozent in diesem Jahr. Auch in dem am Freitag der Verhandlungsdelegation präsentierten „provisorischen“ Szenario rechnet das Statec für 2024 mit einem leichten Wiederaufschwung. Woran es den plötzlichen und drastischen Einbruch für 2023 festmacht, der eine erstaunliche Abweichung von der „normalen“ Konjunkturprognose darstellt, wird aus der Präsentation nicht ersichtlich. Die Inflation geht laut Statec weiter zurück, die nächste Indextranche könnte je nach Szenario Mitte oder Ende nächsten Jahres oder erst in 2025 fallen; die Reallöhne sind höher als in den Nachbarländern. Vielleicht ist der Krieg zwischen Israel und Palästina am Einbruch Schuld. Oder die Krise im Bausektor? Oder der sich abzeichnende Regierungswechsel in Luxemburg?
Triple A Die einzige Entscheidung, die CSV und DP am Freitag trafen: Sie wollen alles daran setzen, das Triple A zu erhalten beziehungsweise „datt mer näi-scht wäerte maachen, dat den Triple A a Gefor setzt“, damit der Staat weiter Anleihen zu „vernünftigen“ Zinssätzen aufnehmen könne, sagte Luc Frieden. Dass der Staat weiter Schulden machen muss, daran ließ der Formateur keine Zweifel.
Wie diese Rechnung aufgehen soll, ist unklar. Schon am Mittwoch vergangener Woche hatte Frieden die Bekämpfung der Armut zur absoluten Priorität der zukünftigen Regierung erklärt, noch vor dem Wohnungsbau sowie „Umwelt, Biodiversität, Klima, erneuerbaren Energien“. Und auch der DP-Verhandlungsführer, Noch-Premier und wohl zukünftige Außenminister Xavier Bettel sprach von „Aarmut, Klima, an déi Defien, déi fir onst Land virun der Dier stinn“. Deshalb trafen die Delegationen sich am Freitagnachmittag mit den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Croix-Rouge, die sich barmherzig um die Verlierer des Kapitalismus kümmern, die Menschen in der Gesellschaft, denen es finanziell am schlechtesten geht. Die Croix-Rouge, bei der Luc Frieden noch bis Februar in seiner Eigenschaft als Handelskammerpräsident Versammlungsmitglied war und die mit Michel Wurth von einem seiner Vorgänger in diesem Amt präsidiert wird, äußert sich nur selten zu politischen Angelegenheiten, doch die traditionell der katholischen Kirche und der CSV nahe stehende Caritas war „froh und dankbar“, dass sie zusammen mit der Croix-Rouge zu den Koalitionsgesprächen eingeladen worden war, wie ihre Präsidentin und langjährige CSV-Familienministerin Marie-Josée Jacobs am Freitagnachmittag der Presse erklärte. Am Sonntag davor hatte Jacobs noch im Centre polyvalent A Schommesch in Oberanven mit Luc Frieden das Ende von Gambia und die Rückkehr der CSV in die Regierung gefeiert. Nach dem Treffen mit den Wohlfahrtsverbänden am Freitag bezeichnete der Formateur die Armut als vielschichtige Problematik mit ganz vielen Dimensionen: Sie sei nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Wohnens, der Gesundheit, der Unterbringung von Flüchtlingen – anerkannten und nicht anerkannten –, die Thematiken seien „vun enormer Komplexitéit“.
Nach dem Wochenende wurde es merklich kälter draußen. Zwar schien noch immer die Sonne, doch die Temperaturen sanken um zehn Grad Celsius, am frühen Montagmorgen waren die Blätter der Bäume rund um das Schloss Senningen mit leichtem Reif überzogen. Eine halbe Stunde nachdem die Delegationen von OGBL, LCGB und CGFP auf dem Gelände eingetroffen waren, um den zukünftigen Koalitionären ihre Forderungen vorzutragen, stellte das Statec in der Coque seinen neuesten Rapport Travail et Cohésion sociale vor. Daraus geht hervor, dass das Armutsrisiko im Jahr 2022 – trotz gestiegener Energiekosten und hoher Zinsen – im Vergleich zum Vorjahr offenbar um 0,2 Prozentpunkte leicht gesunken ist, doch noch immer 17,2 Prozent der Bevölkerung betrifft. In absoluten Zahlen sind das 108 000 Einwohner/innen. Die sozialen Ungleichheiten haben sich laut Statec insgesamt stabilisiert, doch die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommensklassen sind gestiegen.
Armut Der vom Statec beobachtete Rückgang des Armutsrisikos (in zwei von drei Berechnungsmethoden geht das Armutsrisiko zurück, im dritten Szenario steigt es an) könnte jedoch damit zusammenhängen, dass die Zahl der Menschen, die in tatsächliche Armut abrutschen, zunimmt. Das Statistikamt berücksichtigt in seinen Berechnungen nur Einwohner/innen, die offiziell angemeldet sind, Obdachlose werden nicht erfasst. Gleichzeitig berichtet die Caritas, dass immer mehr Menschen mit einer Beschäftigung auf der Straße landen, ihre Haltes de nuit und Épiceries sociales aufsuchen. Offizielle Zahlen zur Armut existieren in Luxemburg nicht, Schätzungen zufolge leben 3 000 bis 5 000 Menschen auf der Straße. Doch die Beobachtungen der Wohlfahrtsorganisationen decken sich mit denen des Statec in der Hinsicht, dass Menschen, die den unqualifizierten Mindestlohn beziehen, sowohl vom Armutsrisiko als auch von tatsächlicher Armut am stärksten betroffen sind. Sie arbeiten größtenteils im Baugewerbe, in Restaurants, Gaststätten und Hotels sowie im Einzelhandel.
Armut und Armutsrisiko sind eng verknüpft mit der Wohnungsnot. „Pour les ménages du premier quartile de revenu, la charge du logement représente 57,9% de leur revenu disponible“, schreibt das Statec in seinem Bericht. Laut Caritas herrscht ein akuter Mangel an erschwinglichen Mietwohnungen, selbst sogenannte Cafészëmmeren seien inzwischen kaum noch verfügbar. Während die Verkaufspreise für Wohnungen innerhalb der letzten zwölf Monate sanken, sind die Mietpreise im gleichen Zeitraum um weitere sieben Prozent gestiegen. Hinzu kommt, dass über 2 000 Flüchtlinge in den Unterkünften von Caritas, Croix-Rouge und Ona festsitzen, weil sie keine Wohnung (und häufig keine Anstellung) finden, während Noch-Außenminister Jean Asselborn (LSAP) am heutigen Freitag den Notstand wegen gestiegener Asylanträge ausrufen wird.
So „komplex“ diese Probleme auch sein mögen: Solange die Wohnungsnot nicht gelöst ist, können sie nur mit Sozialtransfers und anderer staatlicher Unterstützung bekämpft werden. Weder die Erhöhung des Mindestlohns, noch die der in vielen Fällen unzureichenden Mietsubvention ist jedoch in den Wahlprogrammen von DP und CSV vorgesehen. Beide Parteien bekennen sich zwar zu der regelmäßigen gesetzlichen Anpassung des sozialen Mindestlohns an die Inflation, allerdings will die DP „die Auswirkungen jeder Mindestlohnerhöhung auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und auf die Arbeitslosenquote überprüfen“. Weil die künftigen Koalitionspartner die Bekämpfung der Armut zu ihrer obersten Priorität erklärt haben, müssen sie nun kurzfristig liefern, umso mehr da die Wohnungsnot nicht in einem Jahr gelöst sein wird. Einen (degressiven) Steuerkredit für Mindestlohnempfänger haben beide Parteien in ihrem Programm. Damit die Armut nicht noch weiter steigt, verlangt die UEL, dass die neue Regierung mit hohen Investitionen die kriselnde Baubranche rettet, die der unsichtbaren Hand offenbar entglitten ist.
Am Dienstag und am Mittwoch, als am Abend der Regen einsetzte, haben die vom Formateur gebildeten Arbeitsgruppen damit begonnen, die jeweiligen Ideen und Vorschläge aus den Wahlprogrammen von DP und CSV in den einzelnen Themenfeldern zusammenzuführen. Beamte sind in den Gruppen nicht vertreten, sie bestehen ausschließlich aus Politiker/innen und Fraktionsmitarbeiter/innen, einige von ihnen sind in mehreren Gruppen vertreten. Am heutigen Freitag sollen sie dem Formateur einen ersten Zwischenbericht vorlegen, bis Mitte nächster Woche sollen sie ihre Verhandlungen abgeschlossen haben. Die Resultate der einzelnen Arbeitsgruppen werden anschließend in der Plenarversammlung besprochen. Die personelle Besetzung der Ressorts soll erst erfolgen, nachdem Luxemburg an Allerheiligen der Toten gedacht hat.
Steuern Neben der Bildungspolitik bestehen die meisten Differenzen zwischen den potenziellen Koalitionspartnern in der Finanzpolitik. Das größte und wichtigste Wahlversprechen der DP war die Individualisierung der Besteuerung durch die Zusammenführung der drei Steuerklassen in eine einzige (ohne zu präzisieren, wie sie das genau umsetzen will). Die CSV war dazu nur schrittweise und mittelfristig bereit; kurzfristig sei das nicht zu finanzieren, hatte Frieden immer wieder behauptet. Im Gegenzug versprachen die Christsozialen die vollständige Anpassung der Steuertabelle an die Inflation sowie weitere Steuererleichterungen und Steueranreize für Geringverdiener, für junge Menschen (Starterkit) und für Senioren. Und natürlich für Betriebe – in allen Wirtschaftsbereichen. Mit den derzeitigen Haushaltsprognosen sind diese Erleichterungen aber genauso wenig zu bezahlen wie die Individualbesteuerung der DP.
Man darf daher gespannt sein, auf welchen Kompromiss die beiden Parteien sich einigen werden. Und darauf, ob die DP das Finanzministerium behält oder ob es komplementär zum Staatsministerium an die CSV geht und der designierte Staatsminister es vielleicht sogar selbst übernimmt. Die CSV-Patriarchen Pierre Werner, Jacques Santer und Jean-Claude Juncker, als deren geistiger Erbe Luc Frieden sich sieht, standen stets beiden Ministerien vor. Erst in der Legislaturperiode, in der ein Machtwechsel bevorstand, gaben sie das Finanzressort an ihren designierten Nachfolger ab: Werner 1979 an Santer, Santer 1989 an Juncker, Juncker 2009 an Frieden.
In der Steuerpolitik nichts zu tun, ist nach all den Wahlversprechen von CSV und DP keine Option. Deshalb geht es bei den Verhandlungen auch darum, mögliche Steuererleichterungen und Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut trotz schlechter Haushaltsprognosen gegenzufinanzieren. Über die Forderungen der Gewerkschaften, die Betriebs- und Kapitalbesteuerung zu erhöhen und die Vermögenssteuer für Privatpersonen wiedereinzuführen, dürften die Mitglieder der Verhandlungsdelegationen am späten Montagvormittag zusammen mit den Vertretern der UEL, die sie nach den Gewerkschaften trafen, nur gelacht haben.
Eine Senkung der Sozialausgaben und Investitionen hatte Luc Frieden im Interview mit Reporter vor den Wahlen nicht ausgeschlossen. Er hatte auch immer wieder betont, dass staatliche Subventionen sozial selektiver und nicht „mat der Géisskan“ verteilt werden sollten. Vielleicht könnte das zur Folge haben, dass kostenlose Schulbücher und Kinderbetreuung – vielleicht sogar der gratis öffentliche Transport – nur noch Geringverdienern zugute kommen. Allzu viel lässt sich damit aber vermutlich nicht sparen. Eine weitere Möglichkeit wäre, die Ausgaben für Umwelt- und Klimaschutz zu kürzen, was jedoch dem Bekenntnis widersprechen würde, diesen Bereich zu den drei Hauptprioritäten der neuen CSV-DP-Koalition zu zählen.
Schlanker Staat Aus verhandlungsnahen Kreisen war in dieser Woche zu vernehmen, dass Luc Frieden vor allem bei den laufenden Ausgaben des Staates den Rotstift ansetzen wolle. Alleine beim Zentralstaat machen die Gehälter rund ein Viertel der laufenden Ausgaben aus – in absoluten Zahlen sind das 6,2 Milliarden Euro. Im gesamten öffentlichen Dienst arbeiten in Luxemburg rund 100 000 Menschen. In ihrem Wahlprogramm hatte die CSV angekündigt, sie wolle alle staatlichen Prozeduren auch digital anbieten, sie „vereinfachen und entschlacken“, damit der Staat „schneller nach außen und effizienter nach innen“ werde – eine langjährige Forderung des Patronats, die der Direktor der Handwerkerkammer, Tom Wirion, noch am Donnerstag im RTL Radio wiederholte.
Als Handelskammerpräsident hatte Frieden im Juli 2022 eine Studie vorgestellt, die zu dem Schluss kommt, dass sich bis 2030 durch Digitalisierung, Vereinfachung, Optimierung und Restrukturierung im öffentlichen Dienst bis zu 30 000 Stellen und 11 Milliarden Euro einsparen ließen (d’Land, 19.08.2022). Einsparungspotenzial sah die von dem damaligen McKinsey-Luxembourg-Partner und kurzzeitigen SNCI-Chef Marc Niederkorn geleitete Arbeitsgruppe insbesondere in den öffentlichen Verwaltungen (37%), in den Schulen (26%) und im sozialen Sektor (36%). Entlassen werden sollte niemand (was beim Staat auch nicht so einfach wäre); Personal, das in Rente geht, sollte lediglich nicht ersetzt werden. Damit könne auch der von Patronatsverbänden regelmäßig beklagte „unlautere Wettbewerb“ des öffentlichen Sektors gegenüber der Privatwirtschaft bei der Rekrutierung von „Talenten“ und anderen Fachkräften verringert werden. Auch die DP will laut ihrem Wahlprogramm die Digitalisierung im öffentlichen Dienst vorantreiben. Und darauf achten, dass „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Ausbildung von jungen Fachkräften im Privatsektor und ihrer Rekrutierung durch den Staat, Gemeinden und den Parastaat besteht“.