Die kleine Zeitzeugin

Die Geste

d'Lëtzebuerger Land vom 27.10.2023

Bei so etwas muss ich weinen. Das ist genauso unkontrollierbar und unabsichtlich, wie es vielleicht oder wahrscheinlich die Geste war. Die kam aus tiefstem Herzen, so schien es. Aus einer Tiefe.

Darf ich, die ich weit weg von all dem Horror bin und keine Israelin und keine Jüdin und keine Expertin in nichts, schon gar nicht im sogenannten Nahost-Konflikt, mein vollkommen unqualifiziertes Berührtsein zur Sprache bringen? Mein einfach nur menschliches Berührtsein?

Wo diese Geste in Israel so stark kritisiert wurde. Die alte Frau, die Jüdin, die dem jungen Mann, dem Palästinenser die Hand reicht. Wie konnte man das medial derart krude präsentieren? Dann das ganze ungecoachte Interview, eine den Fernsehkameras ausgelieferte frisch entlassene greise Geisel, die beinahe mit Zuneigung über ihre Wärter spricht. Welch ein PR-Desaster, was für eine Hamas-Publicity! PR-Expert/innen zeigten sich entsetzt über das ihrer Meinung nach unprofessionelle Vorgehen, in den sozialen Netzwerken herrschte Fassungslosigkeit.

Das ist nachvollziehbar. Nach dem Schock den dieses Land erlitten hat, nicht der Moment für ausgewogene Debatten. Vielleicht wird man der Frau zugutehalten, dass sie alt ist. Und das mit verwirrt gleichsetzen. Dass sie traumatisiert ist. Dass sie verängstigt ist. Dass sie die Dankbarkeit von Gequälten und Unterjochten bei der geringsten Anwandlung von Menschlichkeit des Unterdrückers zeigt. Dass sie vom Stockholm Syndrom befallen ist. Und die Geste so erklären. Entschuldigen. Oder hat es damit zu tun, wird gemutmaßt, dass ihr Mann noch in den Händen derer ist?

Einem von denen reichte sie die Hand. Die Hand reichen. Eine uralte Geste. Die Geste von Willkommens- und Abschiedgruß. Die Geste derer, die sich auf Augenhöhe begegnen. Von Partner/innen. Von Fair Play und Grundvertrauen und Anerkennung. Die Geste der Friedfertigen und Unbewaffneten. Die Geste der Versöhnung. Geht sie von einer alten Frau aus, wird auch Güte, Weisheit, Mütterlichkeit mit ihr verbunden. Großmütterlichkeit. Sie, die alte Frau, reicht dem jungen Mann, vermutlich einem Muslim, die Hand. Er zieht sie nicht zurück.

Shalom, sagte sie leise. Shalom, die hebräische Grußformel die Frieden und Wohlergehen heißt. Oder war es Salam? Die Bedeutung ist nahezu die gleiche.

Vielleicht war sie einfach überfordert, von allem was sie durchgemacht hat, wer wäre es nicht? Nach dem Terror und dem Tunnel ins Scheinwerferlicht. Vielleicht war die Geste nur ein Reflex. Und wenn. Ein schöner Reflex jedenfalls, der Reflex eines schönen Menschen. Einer Friedens- und Menschenrechtsaktivistin, die sich ihr Leben lang für Frieden mit Palästina einsetzte. Die gar nicht anders kann. Meine Mutter ist einfach so, sagte ihre Tochter.

Diese Geste ist jenseits. Jenseits von unserm Gut/Böse-Denken, von unserm blutigen Schwarz-Weiß-Denken. Jenseits von Auge um Auge und Zahn um Zahn, bis endlich alle blind und zahnlos und endlich total tot sind.

Islam, Judentum, wen interessiert das? schreit eine Frau in den Betontrümmern von Gaza. Wo bleibt die Menschlichkeit? schreit sie. So lange es Menschen wie Yocheved Lifschitz gibt, ist Israel nicht verloren, postet eine Leserin von Haaretz. Auch solche Stimmen gibt es.

Imagine! In dieser israelischen Nacht hat etwas aufgeleuchtet. In dieser kleinen Bewegung, der Bewegung auf den andern zu hat etwas aufgeleuchtet. Diese Menschenmöglichkeit.

Vielleicht wirkt es kitschig, naiv, bestenfalls ahnungslos, anmaßend vor allem wenn eine Nicht-Israelin, Nicht-Jüdin und Nicht-Palästinenserin diesen zarten, kostbaren Moment feiert, den so viele Bürger/innen Israels als Zumutung empfinden.

Aber diese kleine Geste ist dermaßen groß. Und genau diese Gesten brauchen wir, wir alle, Gesten der Zuversicht, Gesten der Hoffnung. Vielleicht ist eine Alte Frau gerade die Richtige, um sie zu vermitteln.

Ich danke der Frau, die durch die Hölle ging und das Paradies in uns aufblitzen ließ. Ich verbeuge mich vor Yocheved Lifschitz.

Michèle Thoma
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