Sie schauen mich so anklagend an. Sie hängen herum, wie schiefe Zähne, wie alte Zähne, wie abgestorbene Zähne, irgendwann fallen sie um, unbemerkt, das Leben geht weiter, die Neuen drängen nach, sie werden nach hinten verschoben, in die hinteren Ränge. Ins Abseits. Manchmal wird nach ihnen gebuddelt, dann wird die Suche aufgegeben. Der nächste Seismus wird sie an den Tag befördern.
Man soll sie ehren und nicht nur begehren. Sie würdigen, sie sollen alle den besten Platz haben, bitte schön! In der Loge. Zumindest die Lieblingsbücher. Die Heiligtümer. Wie kann ein Heiligtum unbeachtet zu Staub verfallen, in einem toten Winkel? Und die andern könnten stramm und sortiert stehen, fitte Soldat*innen, immer bereit. Zum Beispiel die Lexika und Wörterbücher. Aber wer braucht noch ein Buch voller Wörter? Wo soll jemand, der nicht über Ost- und Westflügel verfügt, all die Brockhäuser logieren? All die Wörterbücher, Turkmenisch, Kreolisch, wann hatte ich vor Japanisch zu lernen? Sanskrit? Hebräisch? Hieroglyphisch?
Was huch! nistet da hinter ihnen, was sind das für Wesen, aus welcher Unter- oder Zwischenwelt? Was wird da ausgebrütet? Fette Raupen, kriechende Nebelwatte, Gespinste des Grauens. Lurch, fällt mir ein, nennen alte Wiener*innen diese wuchernde Fabelwelt unter ihren Betten. Ja, genau. Aber was macht Lurch hinter Rom, Blicke von Rolf Dieter Brinkmann? Wie kann ich das zulassen?
Ich erklimme luftleere Höhen, tauche ab in Tiefen in denen lange keines Menschen DNA Spuren hinterließ, Unterweltwesen umgarnen mich, staubumflort tauche ich auf. Ich schleppe ich hebe ich hieve, raus mit euch auf den Balkon! Frische Luft schadet euch nicht! Euch heiligen Geistern, Geistlose sind leider auch darunter, was mache ich mit denen, ich kann sie ja nicht wegwerfen? Und all jenen, die Weggefährten waren, kurz, aber dann ist alles gesagt, und man kann auseinander gehen?
Aber wer liest noch? Ich bin Letzte Generation, wer will die Nachfolgenden unter Türmen aus Vergilbtem erschlagen? Mit Botschaften von Letzte Degeneration, mit mit Rufzeichen und Herzen versehenem Unterstrichenem, kryptischen Kommentaren? Die Bücher irgendwohin verdrängen? Zur Freien Entnahme draußen, das wäre ein frommer Kompromiss, wo die Sonne sie bleicht und der Regen sie aufweicht? Oder so ein Bücherregal auf einem öffentlichen Platz, wo die Letzten die Konsaliks der Vorletzten entsorgen und hin und wieder der in Vergessenheit geratenden Kulturtechnik des Schmökerns huldigen?
Ich verteile sie auf dem Balkon. Zwischen trübseligem Gewächs, schaut mich ebenso anklagend an, wo bleibt unser Drink, unsere Düngerdroge? Stapel errichte ich, die Unbedingten, die Geliebten, dann die die noch eine Chance bekommen, und die die sofort. Weg. Jetzt. Häufchen und Türmchen gestalte ich, dekorativ, möglichst verlockend. Wenn Artgenoss*innen reinschnuppern, Letzte Exemplare wie ich. Ein Bücherbuffet statt immer nur Schafskäse. Das andere Finger Food. Blättern, Nase reinstecken. Hängen bleiben. Hooked. Ich fange an, abzustauben, professionell, ist doch gleich appetitlicher.
Da liegen sie und öffnen sich mir. Strindbergs Tagebuch, mal sehen, was er so trieb. Rette sich wer kann! Dann doch lieber Pitigrilli, da gibt’s wenigstens Kokain. „Ich habe einen echten Sinn für die Führung eines Haushalts“, behauptet Marguerite Duras in meiner Deutsch-Übersetzung. Nein, danke, jetzt gerade nicht! Dann schon eher Che Guevara war ein Mörder, wo kommt der denn her? Von Rafael David Kohn. Ich setze mich ernsthaft hin. Ich lese ernsthaft. Mörder Che Guevara muss mit ins Bett, nachher will ich dem Schriftsteller schreiben. Danke fürs Traurigsein.
Ginsburg und der Rotkohl, alte Bekannte! Von Barbara Höhfeld. Vor langer Zeit gelesen, und jetzt ganz anders, ein anderes Buch, ich ein anderes Ich und schon wieder mittendrin.
Hitze, die alles auslöscht, auch die Zeit, und Bücher, die Lies mich! lispeln. Und eine pflückt sich ein Gedicht und nascht Twitterprosa, kostet Gesalzenes und Gepfeffertes und leichte Kost und schwere. Manches spuckt sie aus. Überall Appetizer, und dann kommt der Hunger.