Auf dem Deckblatt des Programmhefts zur anstehenden Spielzeit im Kasemattentheater sind zwei Hirnhälften zu sehen, die linke weitgehend schwarzweiß, die rechte überwiegend bunt und wild ausgefärbt. Der rechte Rand zerfasert nach außen hin, Farbkleckser brechen durch die Hirnrinde und spritzen ins Dunkel des Grunds. Die Zeichnung mag auf den Kontrast schwarzweißer Denke gegen die bereicherndere Alternative der Auseinandersetzung mit multikultureller Vielfalt und Meinungsfreiheit hindeuten. Mag. Zweifellos aber ruft sie nach dem, was unsere öffentlichen Debatten so sehr vermissen lassen: Hirn, Vernunft, Besonnenheit. Eben dieses Plädoyer verfasst Dramaturg Marc Limpach in seinem Eingangsschreiben zur anstehenden Saison, wie gewohnt gesättigt mit einem Schatz an Zitaten aus der Literatur- und Kulturgeschichte: „Mort aux cons?“ „Wir brauchen eine neue Aufklärung!“ Eben dieses Plädoyer zieht sich wie ein roter Faden durch die diesjährige Spielzeit. Das Kasemattentheater sagt der Dummheit den Kampf an, appelliert an jene graue Masse, die den Menschen eigentlich zu Intelligenz und Vernunft verleiten sollte. Sollte.
Es gilt somit „vor allem am Theater, zumindest Fragen zu stellen und damit möglicherweise Perspektiven zu verändern“, um „wenigstens interessante und aufklärerische Konflikte“ auf der Bühne zu schüren. Charakteristisch für das Haus an der Rue du Puits haben Direktor Lex Weyer und Dramaturg Marc Limpach wieder eine ganze Reihe an Lesungen angesetzt. Dazu zählt im November Vive d’Republik! mit einer Textauswahl von Jacques Maas, Denis Scuto, Henri Wehenkel und Marc Limpach. Aktuelle Rechercheergebnisse rundum die revolutionären Bestrebungen in der Nachkriegszeit werden in diesem Vortrag dokumentiert. Im Dezember widmet sich die Schauspielerin Désirée Nosbusch gemeinsam mit ihrem Sohn Luka Kloser Milenas Briefen. Milena Jesenská sicherte sich ihren Platz in den Geschichtsbüchern nicht nur als Geliebte Franz Kafkas, sondern auch als Widerständlerin und Opfer der faschistischen Besatzer. Mit Mort aux cons! führen uns Eugénie Anselin, Véronique Fauconnet, Marc Limpach und Jules Werner mit einer breiten Sammlung an Textauszügen in die endlose, erschreckende und wunderliche Welt der Dummheit ein. Diese Lesung findet im März statt. Satirisch und gesellschaftskritisch öffnet sich das Theater schließlich mit der letzten Lesung Das Hau-Projekt im Mai. Nickel Bösenberg, Dominik Raneburger und Pitt Simon lesen eine ganze Reihe an Texten aus dem Nachlass des Dichters, der von den Gründungsvätern des Titanic-Magazins in den Sechzigern ausfindig gemacht wurde.
Doch auch das traditionelle Sprechtheater findet Raum im Kasemattentheater: Mit dem multilinguistischen Projekt Der Regen von Daniel Keene betritt Darstellerin Nicole Max die Bühne für die deutsche Ausgabe eines europäischen Theater-Events unter der Regie von Anne Barlind dieses Wochenende, am 4. und 5. Oktober. Keene beleuchtet am Beispiel seiner Hauptfigur Hanna Wege der Erzählung, Möglichkeiten kollektiver Erinnerung an bruchstückhaft angedeuteten Deportationsszenarien. Ein weiteres Projekt thematisiert im November die Rechercheergebnisse des türkischen Autors und Regisseurs Tuğsal Moğul über die Untiefen der NSU-Verbrechen im türkischsprachigen NSU: Auch Deutsche unter den Opfern. Ceren Sevinç, Deniz Gürzumar und İsmail Sağir stehen auf der Bühne. Im Januar mimen Eugénie Anselin, Eli Johannesdottir, Raoul Schlechter und Anouk Wagener Rebekka Kricheldorfs Intervention unter der Regie von Sandra Reitmayer. Ein „bitterkomisches Schauspiel“ entlarvt die multiplen Formen und Ausartungen von Drogensüchten in einem Gespräch unter Freundinnen, das als wohlgemeinte, inszenierte Überraschungsparty angedacht war. Timo Wagner und Franz Liebig interpretieren dann im April die Titelfiguren in Fanny Sorgos Rosenkranz und Güldenstern auf Greta nach Motiven von William Shakespeare und Tom Stoppard. In dieser wohl ökologisch umgedeuteten Hamlet-Motivik führt Daliah Kentges Regie.
Mit The place, it has a name erweitert das Haus seine gewohnte Palette ästhetischer Mittel. Mit Ian de Toffolis Texten, Elsa Rauchs Stimme und Interpretation sowie Lisa Kohls Videos und Installationen stellt das Kasemattentheater einen weiteren Beitrag zum Projekt Freiraum des Goethe-Instituts vor. Das Ensemble beleuchtet die unterschiedlichen Schichten menschlicher Sehnsüchte und Bedürfniserfüllung, inspiriert von Andrej Tarkowskis Film Stalker aus dem Jahre 1979.
Die Saison im Kasemattentheater endet zwar im Rahmen der Carte Blanche mit einem Konzert des Jazz-Pianisten Michel Reis im Juli, dem Publikum wird aber im August noch ein weiteres Event geboten: Luc Schiltz und Serge Tonnar werden den Mythos des Judasverrats in Judas: Zwei Monologe über einen Verrat von Lot Vekemans und Walter Jens im Inneren der Bock-Kasematten aufleben lassen.
Von wenigen ästhetischen Neuerungen einmal abgesehen, verspricht das Kasemattentheater somit eine Reihe an Mitteln im Kampf gegen die Volksverblödung und legt (nicht ohne Wiederaufführungen) Wert auf die beiden Standbeine Sprechtheater und Lesung.