Neue Theatersaison im TNL

Lasches Motto, kreatives Wagnis

d'Lëtzebuerger Land du 20.09.2019

„Theater, das entfesselte Gefängnis“: So also lautet die recht bemühte Marschrichtung, das Motto der anstehenden Spielzeit im TNL. Das Theater sehe seinen Sinn darin, auf Missstände zu verweisen und dürfe keinesfalls darauf verzichten, dem Zuschauer Freude und Spaß an der gebotenen Bühnenkunst zu bereiten. So weit, so klar. Mit der These, „wir“ lebten in einem Gefängnis, „in dem wir uns gemütlich eingerichtet haben, hinter unsichtbaren Gittern“, schwingt hingegen die Tonalität einer Plattitüde, einer Stammtischparole mit, die so schwammig und wenig aussagekräftig wirkt, so sehr dahergesagt scheint, dass sie den hohen Ansprüchen auf künstlerisches Wagnis des Théâtre National du Luxemburg nicht standhalten kann. Deshalb verlieren wir keine weiteren Zeilen über diesen Tenor, sondern beschäftigen uns mit den Bausteinen der kommenden Saison.

Das TNL sticht einmal mehr mit einer Vielzahl an hauseigenen Produktionen hervor. Zuvor müssen jedoch drei Personen erwähnt werden, die in den nächsten Monaten an Bedeutung gewinnen: Traditionell holt sich das Team um Intendant Frank Hoffmann einen Auteur en résidence ins Haus. In diesem Jahr ist es Schauspieler, Schriftsteller und Liedermacher Michel Clees (geboren 1963), der sich schon seit seinem 15. Lebensjahr mit Theater beschäftigt und in seiner Rolle als Hausautor mit Parterre und Captcha etwas stärker ins Rampenlicht gerückt wird. Die Bühne in der Route de Longwy überrascht zudem mit Florian Hirsch (geboren 1979) als neuem Dramaturgen. Hirsch übernahm diese Funktion schon 2011 am renommierten Wiener Burgtheater und dürfte das TNL mit frischen Ideen bereichern. Mit Stéphanie Buchler stößt schließlich eine Marketing-PR-Verantwortliche hinzu, die die notwendige Social-Media-Präsenz des TNL gemeinsam mit Pascal Biever in Angriff nehmen wird. Eine neue, modernisierte Netzpräsenz ist das erste handfeste Ergebnis dieser Zusammenarbeit.

Nach der Reprise von Hoffmanns Le Dieu du carnage im Oktober steigt der Intendant und Regisseur mit der Uraufführung von Guy Rewenigs Nom Iesse gi mer an den Hobbykeller in den Ring. Marc Baum und Jean-Paul Maes spielen Staatsanwalt und Richter und sind die Hauptprotagonisten dieser „Heimatparodie“, die als Kritik an der luxemburgischen Bourgeoisie angelegt ist. Es handelt sich bereits um Hoffmanns zehnte Inszenierung eines Rewenig-Stücks. Im Februar bringt derselbe Regisseur
Franz Kafka auf die Bühne. Uwe Bohm, Maria Gräfe und Ulrich Kuhlmann übernehmen die Hauptrollen in der Erzählung Die Verwandlung, deren Bühnenfassung für ein volles Haus sorgen dürfte. Für die Kulisse sind Ben Willikens und Bernhard M. Eusterschulte verantwortlich.

Zwei weitere deutschsprachige Hausproduktionen stehen im März und Mai auf dem Programm: Eusterschulte inszeniert Michel Clees‘ Kammerspiel Parterre mit Nora Koenig und Arash Marandi in den Hauptrollen. Vor dem Hintergrund eines überhitzten Wohnungsmarkts wird darin das Zusammenleben zwischen einem Muttersöhnchen, einer Studentin und einem syrischen Flüchtling unter die Lupe genommen. Andreas Wagner übernimmt die Dramaturgie. Christoph Kalkowski schließlich bringt mit Ernst Tollers expressionistischem Werk Masse Mensch – Akte Rabinowitz einen Text auf die Bühne, der sich mit Fragen der Zivilcourage während der revolutionären Umtriebe von November 1918 bis Mai 1919 auseinandersetzt. Jana Schultz und Nickel Bösenberg in den Hauptrollen werden vom Chor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch unterstützt.

In der Sparte des französischsprachigen Theaters inszeniert Katia Scarton-Kim mit Marja-Leena Junker Frédéric Dards La vieille qui marchait dans la mer im Januar. In dieser Geschichte um Lady M., die sich einen um sechzig Jahre jüngeren Liebhaber nimmt und ihre Arthrose bevorzugt im Meerwasser besänftigt, befasst sich Dard mit Tabus in den Bereichen Sexualität, Liebe und Moral.

Mit den Worten „c‘est l‘histoire de ce que nous ne verrons jamais” kündigt das Programmheft Véronique Fauconnets Regiearbeit Objet d’attention an. Aude-Laurence Biver, Rosalie Maes und Brice Montagne stehen für diese Produktion über den stillen Horror im Zusammenleben einiger Nachbarn in einem Londoner Wohnhaus auf der Bühne.

Ein englischsprachiges Projekt fügt sich in die Reihe an hauseigenen Inszenierungen ein: Anne Simon führt Anfang Juni Regie im preisgekrönten The open house des US-amerikanischen Dramatikers Will Eno Regie. Was ist zu tun, wenn Familie Horror bedeutet? Man löst den Horror, indem man sie kurzerhand verschwinden und ersetzen lässt: Tiefschwarzer Humor erwartet den Zuschauer in Open house mit Eric Abbott und Elisabet Johannesdottir.

Neben diesem umfangreichen Angebot an Kreationen sind im TNL jedoch einige interessante Gastspiele zu sehen: Textlich und musikalisch führen Starschauspieler Thomas Thieme und Sohn Arthur Thieme (Bass) das Publikum im November ein in eine etwas entstaubte konzertante Aufführung von Brechts Baal, eine Produktion des Augsburger Brechtfestivals unter der Regie von Julia von Sell. Mit Qui a tué mon père, einem Text von Edouard Louis, inszeniert und spielt Stanislas Nordey die musikalisch untermalte Suche nach den Gründen, warum er den leblosen Körper seines Vaters in dessen Wohnung findet. Einmal mehr im Vater-Sohn-Gespann lesen Edgar Selge und Jakob Walser im Februar Björn Bickers Text Was glaubt ihr denn? – Urban prayers. Dazu kommt im Mai Peter Brooks hoch gelobte Inszenierung Why? gemeinsam mit Marie-Hélène Estienne über die Rolle und die Rechtfertigung des Theaters in der Gegenwart auf die Bühne.

Mit der Saarbrücker Kinderoper Ritter Odilo und der strenge Herr Winter im November, Albena Petrovics Kammeroper Love and Jealousy und Andreas Wagners dramaturgischer Arbeit MayWeDance im Mai öffnet sich das TNL zusehends Musik und Tanz. Dazu passt, dass das Team in der Reihe Text a Musek an der Bar sieben Konzertabende plant. Auch mit Theater an der Chamber! am 28. September in der luxemburgischen Abgeordnetenkammer, Footnotes über das Thema Frauenrechte im Dezember sowie Cahier d’un retour au pays natal zum „Mois de la francophonie“ im März schlägt das TNL neue Wege ein. Und doch: Insgesamt bleibt es seinem Kerngeschäft treu, mit unkonventioneller Kreativität zu punkten.

Weitere Informationen unter www.tnl.lu oder im Programmheft

Claude Reiles
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