Weil Regierung und Justizbehörden an der Jugendhaft festhalten, werden Rufe nach einem Jugendstrafrecht lauter

Deckmantel Jugendschutz

d'Lëtzebuerger Land vom 09.03.2018

Gerichte und Staatsanwaltschaft äußern sich „prinzipiell nicht zu Vorentwürfen“, teilte Justiz-Pressesprecher Henri Eippers Anfang der Woche kurz und bündig mit. D’Land hatte angefragt, mit der Justiz über die geplante Jugendschutzreform und die jüngste Kontroverse über Minderjährige in der Schrassiger Strafvollzugsanstalt für Erwachsene zu diskutieren.

Die angeblich grundsätzliche Zurückhaltung überrascht. Denn vor gut zwei Wochen war davon nicht viel zu sehen. Mit Simone Flammang hatte sich die Staatsanwaltschaft im Radio 100,7 über die geplante Jugendschutzreform geäußert, nachdem das Land öffentlich gemacht hatte, dass nach Eröffnung des Sicherheitstrakts für delinquente Jugendliche in Dreiborn (so genannte Unisec) Anfang November weiterhin Minderjährige in Schrassig eingesperrt sind. Und nachdem sowohl die Menschenrechtskommission CCDH, das Kinderrechtskomitee ORK mündlich sowie die Mediateurin in ihrer Funktion als Kontroll-instanz freiheitsentziehender Institutionen (CELPL) schriftlich in einem offenen Brief die Wegsperrpraxis der Justiz unmissverständlich kritisiert hatten.

Der Vorgang ist insofern ungewöhnlich, als sich Richter in der Vergangenheit schon mal echauffiert auf das Prinzip der Gewaltenteilung berufen haben, und weil sich Justizminister Félix Braz, der die politische Verantwortung für die Reform trägt, bis dahin persönlich kaum zu inhaltlichen Einzelheiten seiner Reform geäußert hatte.

Der Konflikt ist nicht mehr wegzureden: Nach rund 15 Sitzungen und zwei Jahre andauernden Beratungen unter seiner Leitung ist es Braz nicht gelungen, einen der Hauptstreitpunkte bei der Jugendschutzreform auszuräumen. Braz’ Gesetzentwurf hat bislang kein grünes Licht vom Regierungsrat, aber mit dem Vorpreschen der Staatsanwaltschaft ist klar: Die Hintertür, straffällige Jugendliche weiterhin in Schrassig einsperren zu können, soll mit Billigung der Dreierkoalition offenbleiben, in Zukunft jedoch an drei Bedingungen gebunden sein: Der/die Jugendliche muss eine Straftat („infraction“) begangen haben, die mit einer Mindesthaftstrafe von zwei Jahren belegt ist. Er/sie muss eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen und die Inhaftierung muss „absolut notwendig sein“, so hatte Flammang im 100,7 ausgeführt.

Braz hat sich im Land-Interview vor einer Woche nicht näher zu den Kriterien äußern wollen, lediglich darauf hingewiesen, sobald der Entwurf öffentlich sei, „kann jeder selbst beurteilen, ob wir strenge Auflagen vorlegen und ob Luxemburg sie einhalten wird“. Eben das steht mit dem Statement der Staatsanwaltschaft in Frage. Ebenso dass die neuen Auflagen die Kritiker ruhigstellen werden. Die Menschenrechtskommission hatte die potenzielle Inhaftierung Jugendlicher im Erwachsenenstrafvollzug bereits vor zwei Wochen als ein „absolutes No-Go“ verurteilt und diesen Standpunkt zuvor in zwei Briefen an den Justizminister übermittelt. René Schlechter vom ORK hatte betont, seit dem Bau der Unisec „gibt es für mich kein Argument, warum diese Jugendlichen nicht dort unterkommen“. Schlechter hatte zudem darauf beharrt, es sei unmöglich, Minderjährige in Schrassig komplett von den Erwachsenen zu trennen, eine Schwierigkeit, die auch die Mediateurin sieht, die in ihrem zweiten offenen Brief von „logistischen und architektonischen Gründen“ schreibt.

Das Strafmaß, das Staatsanwältin Flammang als Richtgröße ankündigte, ist auch aus anderen Gründen problematisch: Mit zwei Jahren Mindesthaftstrafe wird keineswegs nur auf Intensivtäter abgezielt, also Jugendliche, die mehrfach straffällig wurden. Laut Code pénal stehen auf einfachen Diebstahl ohne Anwendung von Gewalt ein Jahr bis fünf Jahre. Wer Cannabis im Keller anbaut oder auf dem Schulhof verkauft, kann ebenfalls mit bis zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. In Deutschland sind schwere Straftaten Erwachsener mit einer Mindesthaftstrafe von fünf Jahren belegt. Sollte Luxemburg, das sich anders als die meisten EU-Länder, die ein Jugendstrafrecht kennen, eines Jugendschutzgesetzes rühmt, über delinquente Minderjährige strenger urteilen als über Erwachsene?

Es geht aber nicht um das Strafmaß allein. Der Streit geht tiefer und ist rechtsphilosophisch-pädagogisch-politischer Natur: Das Jugendschutzgesetz von 1992 kennt, daran erinnert Mediateurin Claudia Monti in ihrem Brief, im staatlichen Umgang mit delinquenten Jugendlichen grundsätzlich nur den erzieherischen und schützenden Auftrag. Auch Intensivtäter und ihre Taten werden grundsätzlich nach erzieherischen und kinderschutzrechtlichen Kriterien bewertet.

Ein vordergründig fortschrittlicher Ansatz, der zurückgeht auf die 1970-er Jahre und der in der Arbeitsgruppe zumindest zu Beginn von den meisten verteidigt wurde. Allerdings mit einem großen Ermessensspielraum für die Richter, die delinquente Jugendliche auch wegsperren können. Teils in aus Kinderrechtsperspektive zweifelhaften Fällen: Unvergessen das zehnjährige Roma-Mädchen, das wegen bandenmäßigen Einbruchdiebstahls in Schrassig einsaß. Dem Land wurde ein Fall zugetragen, wonach eine verhaltensauffällige minderjährige Schwangere in Not in Schrassig inhaftiert war, weil sie ihrem Freund zur Straftat verholfen hatte. Sind das jene Ausnahmen, die Erwachsenenhaft als ultima ratio rechtfertigen, so wie sie internationale Menschenrechtsorgane wie das Antifolterkomitee definieren? Oder wird, unterm Deckmantel des Jugendschutzes, repressive Straflogik exerziert?

Die Staatsanwaltschaft hat in ihrem Kommunikee klargestellt, sie würde sich seit November an verschärften Kriterien orientieren. Sind diese strikt genug? Passt das Wegsperren in einem Erwachsenengefängnis überhaupt zur Philosophie des Jugendschutzgesetzes von 1992?

Für die Kontrolleure des CELPL lautet die Antwort klar Nein: Der Geist des Jugendschutzes, so heißt es im zweiten Brief der Mediateurin, gehe davon aus, ein Minderjähriger, der strafbare Handlungen begeht, benötige „eine Assistenz oder professionelle Hilfe“, um ihn „zu reorientieren und nützlich in die Gesellschaft wiedereinzugliedern“. Diese Assistenz könne wohl einen Zwangscharakter haben, wie das Einsperren in die Unisec. Gebot der Stunde blieben gleichwohl Wiedereingliederung und Prävention von kriminellen Rückfällen.

Das Dilemma vom Jugendschutzgedanken versus Strafe löst auch die dritte Struktur nicht, die Félix Braz Ende 2016 erstmals ins Spiel brachte und vergangene Woche im Land näher erläuterte: Wegen der unmittelbaren Nachbarschaft mit Heimkindern sei „die Unisec nicht die Antwort auf alle unsere Probleme“, hatte der Minister betont, der insbesondere zwischen Minderjährigen, die „schwerste Straftaten begangen haben, und solchen, die ein ganz anderes Profil aufweisen“, unterscheiden will. Richtig ist, dass die Unisec lediglich eine kurze erzieherische Intervention von drei bis maximal sechs Monaten erlaubt. Die dritte Struktur, die Braz sich entlang den Außenmauern von Schrassig vorstellen kann, soll auch junge Volljährige aufnehmen, die noch nicht reif genug sind, um mit den Erwachsenen in Schrassig inhaftiert zu sein. Ein Dokument, das Braz mit Erziehungsminister Claude Meisch (DP) ausgearbeitet hat und das den Justizbehörden derzeit zur Begutachtung vorliegt, soll präzisieren, welche Rechtsverstöße und welche Täterprofile künftig zu welchen Konsequenzen – Dreiborn, Unisec oder Schrassig – führen sollen. Ob die Justizautoritäten dieser Vorgabe Folge leisten werden, steht auf einem anderen Blatt: Bisher haben sie jeden Versuch der Einmischung stets mit dem Verweis auf ihre Unabhängigkeit gekontert.

Den philosophischen Grundkonflikt löst dieser vornehmlich auf infrastrukturelle Aspekte reduzierte Ansatz freilich nicht: Es fragt sich vielmehr, ob in der Logik nicht die Unisec in Dreiborn zurückgebaut und sicherheitstechnisch entschärft werden müsste, wenn eine dritte Struktur als dauerhaftes Jugendgefängnis dienen soll – und wo diese Struktur hinkommen und was sie kosten würde: Die Verhandlungen um die Unisec erstreckten sich über Jahrzehnte, die reinen Baukosten beliefen sich auf über zehn Millionen Euro, enorm viel, wenn man dies auf die zwölf vorhandenen Betreuungsplätze umrechnet.

Mal abgesehen davon, dass ausgerechnet ein grüner Justizminister eine weitere repressive Struktur als Lösung für in Not geratene Jugendliche anpreist: Déi Greng waren stets für weniger Repression statt mehr. Braz mag sein Plädoyer für ein weiteres Jugendgefängnis als Sorge um adäquate Betreuung jugendlicher und heranwachsender Rechtsbrecher darstellen: Juristisch ist der Ansatz ohne eine grundsätzliche Revision des Rechtsrahmens hochfragwürdig. Wie sich seine Konstruktion mit dem Jugendschutzgedanken vereinbaren lässt, hat Braz nicht verraten.

Das dämmert inzwischen auch den Menschenrechts- und Kinderrechtsorganisationen: Hatten sie sich dem am Anfang kategorisch versperrt, aus Sorge, den Gerichten somit zu viel Macht einzuräumen, setzt allmählich ein Umdenken ein: René Schlechter vom ORK war der erste, der laut die Frage nach einem Jugendstrafrecht stellte, nicht weil er es besser findet, sondern „weil wir quasi ein unausgesprochenes Jugendstrafrecht haben“ und um „den Jugendlichen dieselbe Rechtssicherheit zuzugestehen wie Erwachsenen“. Zur dritten Struktur hat sich das ORK inhaltlich bislang nicht geäußert.

Vielleicht findet diese komplexe Grundsatzdebatte nun doch statt, denn der Justizminister hat bereits eingeräumt, es sei wenig wahrscheinlich, dass die Jugendschutzreform noch in dieser Legislaturperiode komme. Das hieße aber, dass die Beratungen erneut verschoben würden, und damit so wichtige Neuerungen wie die Streichung des automatischen Entzugs des elterlichen Sorgerechts bei einer Heimeinweisung durch die Gerichte. Auch diese Praxis wurde von internationalen Menschenrechtsorganisationen als unvereinbar mit der UN-Kinderrechtskonvention kritisiert. So dass, egal ob die Reform kommt oder nicht, die Verlierer bereits feststellen: Es sind die Jugendlichen und ihre Eltern, die weiterhin um eine kinderrechtskonforme Behandlung bangen müssen.

Warum ist die Jugendschutzreform wichtig?

Eine Reform des Jugendschutzgesetzes steht seit über 20 Jahren an. Wegen des automatischen Entzugs des elterlichen Sorgerechts bei der Einweisung eines Jugendlichen in ein Erziehungsheim durch die GerichtePolizistendie Heimkinder in Uniform aus Schulen abholensowie der PraxisMinderjährige im Erwachsenengefängnis einzusperrensteht Luxemburg in der Kritik. Mehrere Anläufedas Gesetz zu modernisieren und den Einfluss der Justiz in der Arbeit mit Kindern in Not zurückzudrängenscheitertenweil die Positionen von Jugendhilfe und Justiz so gegensätzlich waren. Kriminologische Studien zeigendass wer einmal als straffällig und durch staatliche Kontrollinstanzen verurteilt wurderiskiertweiterhin nach dem Etikett be- und verurteilt zu werden. Untersuchungen zeigen zudemdass die Justiz wie andere gesellschaftliche Instanzen (etwa die Schule) Ungleichheiten reproduziert und verfestigt: Jugendliche aus ärmeren Familien tragen ein deutlich höheres Risikomit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und strenger für Verfehlungen bestraft zu werden als Jugendliche aus reicheren Elternhäusern.

In Luxemburg fehlen seit jeher Daten über die Wirkungsweise von Jugendschutz und Justiz. Offenbar hält es nicht einmal ein grüner Justizminister für gebotenfür seine Reform diese und andere Statistiken zu erheben und sie empirisch abzusichern. Den Mitgliedern der Arbeitsgruppe zur Reform lag für die Beratungen jedenfalls keine Evaluation vorweder über die Rechtsprechung der Gerichtenoch über die Folgen verhängter MaßnahmenStichwörter: Rückfallquote und geselllschaftliche Reintegration. Über die Erziehungsmaßnahmen im reformierten Textwie die Kinder- und Jugendhilfe sowie die staatlichen Institutionen im Verhältnis zueinander stehendie genauen Zielgruppen und inhaltlich-pädagogischen Konzepte wurde nach Aussagen von Beobachtern ebenfalls kaum diskutiert. Allerdings existieren keine Sitzungsberichteso dass sich Diskussionsverlauf und Inhalte ohnehin schwer nachvollziehen lassen. ik

Ines Kurschat
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