Buchkritik

Perspektive Kinderrechte

d'Lëtzebuerger Land vom 25.08.2017

Es gibt Bücher, die im Selbstverlag erscheinen, die bereiten Unbehagen. Nicht weil sie so schlecht geschrieben sind – um literarische Kriterien geht es weniger – und auch nicht, weil jemand etwas erzählt, das niemand hören will, sondern weil man sich nach der Lektüre fragt: Wieso werden solche Geschichten nicht von anerkannten Verlagshäusern aufgegriffen und unter professionellen Bedingungen publiziert?

Die Hölle im Kinderheim. Auf ewig hinter seelischen Gittern, geschrieben unter dem Pseudonym Renée Wum, ist so ein Buch. Es handelt sich um die Erinnerungen eines Heimkinds, das in den 1950-er Jahren in einem von Nonnen und Priestern geführten „Kinderheim im Osten der Stadt Luxemburg“ aufgewachsen ist und dort, mit anderen Kindern, Grausames durchlebt hat.

Dabei geht es nicht um den Schreibstil, der ist schlicht und nicht sehr sorgfältig. Es wimmelt von Wiederholungen; grobe Ausdrucksweisen und starke Adjektive sollen die raue Heimwirklichkeit beschreiben, wirken aber bisweilen ungelenk bis pathetisch. Und trotzdem lässt einen die Lektüre nicht unberührt: Die Leserin wird auf eine Reise mitgenommen in eine Kindheit, die geprägt war von (elterlicher) Vernachlässigung und Einsamkeit. Und von institutioneller Gewalt in allen ihren Formen: sexuelle Übergriffe, schwerste körperliche (Zwangs-)Arbeit auf den Feldern in der Umgebung und in Steinbrüchen, körperliche Züchtigung und sadistische Inszenierungen beim geringsten Fehlverhalten, was schon eine verständnislose Gegenfrage, wie sie Kinder oft stellen, sein konnte.

Die Namen der Opfer sind erfunden, aber die Erzählungen, versichert der Autor, seien es nicht. Das ist problematisch: Es ist keine fiktive Geschichte, aber der angebliche Augenzeugenbericht kann keine Wirkung als historischer Bericht entfalten, weil weder die Orte noch Namen der Beteiligten genannt sind, noch sonst etwas auf eine historische Recherche hindeutet. Viele der beschriebenen Übergriffe wären aus heutiger Sicht strafrechtlich relevant. Gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstoßen sie allemal. In der Form kann das Erlebte und Erinnerte aber nicht als historische Quelle betrachtet werden. Ohne in Frage zu stellen, dass in Luxemburger Heimen Furchtbares geschehen ist: Die persönliche Erinnerungsleistung wird, das zeigen psychologische Studien, von vielen Faktoren beeinflusst und kann Gedächtnisspuren nachträglich verwischen und verfälschen.

Der Protagonist stand offenbar auch in Kontakt mit der 2009 eingerichteten Hotline der katholischen Kirche für Missbrauchsopfer, allerdings hat er dort nicht die Unterstützung gefunden, die er erwartete. Was genau passierte, darüber schweigt das Buch. Leider, denn sonst würde vielleicht deutlicher, warum nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts 2010 der Hotline nicht mehr geschehen ist. Wenn es stimmt, dass sich die Kirche und/oder Täter mit Wohnungen und Geld das Schweigen von Opfern erkauften, wäre das ein weiterer grober Verstoß gegen eine aufrichtige schonungslose Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der katholischen Kirche in Luxemburg.

Ein anderes Buch, ebenfalls im Selbstverlag Books on Demand erschienen, könnte helfen, derartige Erinnerungen politisch und sozialhistorisch einzuordnen. Der Schulpsychologe und Kinderrechtler Robert Soisson hat seine Reden und Zeichnungen in vier Bänden in Eigenregie veröffentlicht. Das erste, das Echternach Syndrom 1 mit dem Schwerpunkt Kinderrechte, ist soeben erschienen. Anhand seiner Einlassungen lässt sich nachvollziehen, welche Anstrengungen es brauchte, um die Öffentlichkeit und die Politik in den 1980-er und 1990-er Jahren für Kinderrechte zu sensibilisieren. Soisson zeichnet anhand seiner Reden, die er auf Konferenzen im In- und Ausland hielt, nach, wie bereits vor 30 Jahren Bestrebungen existierten, eine Ombudsstelle für Kinderrechte einzurichten, wie das Konzept aber mit zunehmender Beteiligung des CSV-Familienministeriums verwässert wurde. Einige mögen im Rückblick Schlüsselmomente der hiesigen Kinderrechtsgeschichte sein, etwa die 1994 in Luxemburg organisierte internationale Tagung zu „Ombudswork for children“ oder die von Schottland erstellte und von der von Soisson gegründeten Fachverbands für Soziale Arbeit, Ances, ergänzten Charta vom Juli 1997 zu den Rechten von Kindern in Institutionen. Damals war bereits die Rede vom Recht auf Privatsphäre, von Beteiligung, vom Recht auf eine kindgerechte Bildung und Integration sowie eine bestmögliche Betreuung. Für Heimkinder wie Dutz, Patrick und Henriette, wie sie in dem Buch von Renée Wum heißen, dürfte das wie das Paradies auf Erden klingen. Wenn die schön formulierten Ansprüche umgesetzt werden.

Wer den Sektor kennt, weiß das sich inzwischen vieles verbessert hat; so werden Kinderheime von unabhängigen Gutachtern kontrolliert, das geforderte Kinder- und Jugendhilfegesetz ist Realität. Aber längst nicht alles ist gut. Mit der Einrichtung der gefängnisartigen Jugendanstalt in Dreiborn ist zu befürchten, dass Errungenschaften im Jugendschutz sogar zurückgedreht werden. Weil sich Soissons erster Band darauf beschränkt, in erster Linie eigene Beiträge abzudrucken, bleibt dieser weitere Kontext jedoch größtenteils außen vor und eine realistische Einordnung und Bewertung wird für den Leser schwierig, es sei denn, er verfügt über eigenes Wissen zum Thema.

Ines Kurschat
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