ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Frommes Märchen

d'Lëtzebuerger Land du 09.08.2024

Mitte Juli begannen die Wahlberechtigten, in Richtung Südfrankreich und Mallorca abzureisen. Der Finanzminister wollte ihnen in guter Erinnerung bleiben. Er berief noch schnell eine Pressekonferenz ein. Um Steuersenkungen für nächstes Jahr zu versprechen.

Die Einkommensteuertabelle soll deflationiert werden. Die Steuergutschrift für Alleinerziehende soll erhöht werden. Fast beiläufig kündigte Gilles Roth an: „Fir d’Kompetitivitéit vun de Lëtzebuerger Betriber weider ze stäerken, geet de Kierperschaftssteiersaz vu 17 Prozent op 16 Prozent erof.“

Sechs Monate nach dem deutschen Überfall führten die Nazis die Körperschaftsteuer ein. Durch eine Verordnung der Zivilverwaltung vom 25. November 1940. Nach der Befreiung wurde die Körperschaftsteuer durch einen großherzoglichen Erlass vom 26. Oktober 1944 beibehalten – „jusqu’à disposition ultérieure“. Die Steuerreform vom 4. Dezember 1967 bürgerte sie endgültig ein.

Die Körperschaftsteuer (IRC) ist die wichtigste Unternehmensteuer. Sie wurde nötig, als der Mehrwert nicht mehr vom Inhaber als Einkommen einbehalten wurde. Sondern unter vielen Aktionären aufgeteilt wurde. Oder in der Firma blieb. Deshalb schöpft sie gleich im Unternehmen einen Teil Mehrwert ab. Sie ist kaum progressiv: Sie hat nur zwei Einkommensstufen. Ihr Steuersatz beträgt derzeit 17 Prozent. Der Spitzensatz der Lohnsteuer beträgt 42 Prozent.

Ein halbes Jahrhundert lang schöpfte die Körperschaftsteuer 40 Prozent der Bilanzgewinne ab. Das beeinträchtigte die Wettbewerbsfähigkeit nicht. Das ruinierte die Unternehmen nicht. Die Arbed machte Rekordprofite. Aus den USA kamen Goodyear, Dupont de Nemours. Die lokalen Banken und Versicherungen florierten. Von Goldenen Dreißigern ging die Rede.

Dann besiegte der Neoliberalismus die Gewerkschaften. 40 Jahre internationales Steuerdumping begannen. Von 1984 bis 1998 senkten CSV und LSAP die Körperschaftsteuer von 40 auf 30 Prozent. 2002 verringerten CSV und DP sie rabiat von 30 auf 22 Prozent. 2009 schenkten CSV und LSAP einen weiteren Prozentpunkt. Ab 2017 senkten DP, LSAP und Grüne sie von 21 auf 17 Prozent.

Laut Wirtschafts- und Sozialrat nahm zwischen 2000 und 2020 das Bruttobetriebsergebnis der Unternehmen um 170 Prozent zu. Die Körperschaftsteuereinnahmen stiegen nur halb so viel (Analyse des données fiscales au Luxembourg 2021, S. 22).

CSV und DP machen weiter. Die weitere Senkung der Körperschaftsteuer kostet jährlich 70 Millionen Euro. Sie sei „wichteg, fir d’Kompetitivitéit vun eise Betriber an Europa a virun allem och an der globaler Welt ze stäerken“. Behauptete der christlich-soziale Finanzminister. „Duerch d’Erofsetze vun der Steierlaascht ginn d’Gesellschaften encouragéiert, weider z’investéieren, sech z’innovéieren an doduerch och virun allem weider an nei Aarbechtsplazen ze schafen.“

Das ist ein frommes Märchen. Durch eine Senkung der Körperschaftsteuer innovieren die Industrien nicht, investieren sie nicht. Denn die produzierende Industrie zahlt bloß ein Prozent aller Körperschaftsteuer.

Laut Wirtschafts- und Sozialrat kommen 28,2 Prozent der Körperschaftsteuereinnahmen von Soparfi-Holdings. 23,7 Prozent stammen von Banken, 27,9 Prozent von anderen Finanzaktivitäten und Versicherungen (S. 29). Insgesamt zahlt der Finanzsektor 80 Prozent der Körperschaftsteuer.

Der Wirtschafts- und Sozialrat rechnet vor, dass „0,81% des contribuables assujettis à l’IRC ont payé 75% des recettes totales IRC.“ Und schlussfolgert: „[L]es recettes IRC sont très concentrées au niveau d’une minorité de contribuables“ (S. 22). Folglich ist auch der Nutzen der Körperschaftsteuersenkung „très concentré au niveau d’une minorité de contribuables“.

Romain Hilgert
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