ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Anderswähler

d'Lëtzebuerger Land du 26.07.2024

Parlamentswahlen bestimmen Abgeordnete. Der Wahlakt erscheint als Konsumakt: Parteien machen Angebote, die Kundschaft wählt aus. Gleichzeitig wird der Akt politisch sakralisiert: Er muss den Machtlosen das Gefühl geben, an der Herrschaft beteiligt zu werden. (Alle fünf Jahre 60 Sekunden.)

Bei den Europawahlen am 9. Juni waren 319 410 Wählerinnen und Wähler eingeschrieben. 56 581 nahmen nicht an den Wahlen teil. Weitere 12 287 gaben einen leeren, 11 771 einen vorschriftswidrigen Wahlzettel ab. Die Anderen ließen 47 487 Stimmen beim Panaschieren ungenutzt. Am Ende wählten 72,3 Prozent der eingeschriebenen Wählermasse Abgeordnete. Jede vierte Wahlberechtigte wählte, keine sechs Abgeordneten zu wählen. Sie waren die größte der Parteien.

Trotz Wahlpflicht bis 75 Jahre nahm ein Sechstel der Berechtigten nicht an der Wahl teil. Aus Desinteresse an den Europawahlen, an der Politik, weil sie sich überfordert fühlten, aus Kritik an sämtlichen Parteien und Kandidaten. Weil Wahlen doch nichts ändern.

Die Wahlbeteiligung war in der Hauptstadt und in Arbeiterstädten des Südens niedriger als in kleineren Landgemeinden: Auf einer Skala nach Pearson von +1,00 (völlig übereinstimmend) über null (kein Zusammenhang) bis –1,00 (völlig entgegengesetzt) betrug die Korrelation zwischen Wahlbeteiligung und Einwohnerzahl –0,42.

Die Wahlbeteiligung war höher, wo der Medianlohn höher ist (+0,27). Sie war in den Gemeinden niedriger, wo, mehr Arbeiter (–0,42), mehr RMG/Revis-Berechtigte (–0,44), mehr Arbeitslose (–0,63) wohnen. Folglich war sie niedriger in Gemeinden, wo die LSAP (–0,44), die CSV (–0,41) und die ADR (+0,30) mehr Stimmen erhielten. Die Wählerschaft dieser Parteien ist häufiger älter als 75.

Mehr als zehntausend Wahlberechtigte gaben einen Wahlzettel ab, ohne ihn ausgefüllt zu haben: Sie nahmen an den Wahlen teil, um sich zu enthalten. Weil keine Partei, keine Kandidatin ihren Vorstellungen entsprach. Weil sie ihren Zweifel bescheinigen wollten am Sinn von Europawahlen oder Wahlen im Allgemeinen. Weil sie gesetzestreu, aber ratlos waren.

Weiße Wahlzettel waren häufiger in Gemeinden, wo mehr Arbeiter wohnen (+0,60), mehr Revis-Berechtigte (+0,36), wo der Medianlohn niedriger ist (–0,63). In Gemeinden mit einem höheren Anteil an Leuten mit Grundschulabschluss wurde mehr weiß gewählt (+0,56). In Gemeinden mit mehr Einwohnern mit Hochschulabschluss wurde ebenso deutlich weniger weiß gewählt (–0,69). Folglich wurde mehr weiß gewählt, wo Sozialdemagogen wie ADR und die Piraten besser abschnitten (+0,42 bzw. +0,64). Weniger weiß wurde gewählt, wo die gutbürgerlichen DP und Grünen besser abschnitten (–0,47 bzw. –0,60).

Mehr als zehntausend Leute gaben irrtümlich oder gezielt einen vorschriftswidrigen Wahlzettel ab. Weil sie sich bei der Stimmabgabe verzählten, weil sie ihren Stimmzettel mit einer Botschaft versahen. In Gemeinden, wo mehr Rentnerinnen oder Wähler aus anderen EU-Ländern wohnen, war der Anteil ungültiger Stimmzettel nicht höher. Deutlich war der Zusammenhang zwischen ungültigen Stimmzetteln und dem Anteil der Arbeiterinnen (+0,68), der Revis-Berechtigten (+0,59), der Arbeitslosen (+0,65), der Leute mit Grundschulabschluss (+0,69) und Sekundarunterstufe (+0,56).

Die herrschenden Verhältnisse sind Bürgern, Kleinbürgerinnen, Besserverdienenden geneigter. Im Gegenzug legitimierten diese mit ihrem Wahlakt die Verhältnisse bereitwilliger. Arbeiter, Arbeitslose, Niedrigverdienerinnen, Arme entzogen sich dem Wahlakt häufiger. „L’abstentionnisme est peut-être moins un raté du système qu’une des conditions de son fonctionnement comme système censitaire méconnu, donc reconnu“ (Pierre Bourdieu, La Distinction, Paris 1979, S. 464).

Romain Hilgert
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