Manche Leute bedrängen einen mit widerwärtigen Ansichten. Über die Politik, die Ausländer, die Frauen, die Erziehung, das Impfen, das Klima... Man nickt und lässt sie reden. In der Hoffnung, dass sie dann am raschesten den Mund halten.
Doch „[d]as Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat“. Schrieb Theodor W. Adorno 1944. Der Mord ist die Vernichtung der europäischen Juden.
Schon in den Zwanzigerjahren fragte sich der Philosoph, wieso die Menschen gegen ihre eigenen Interessen verstoßen: 1914 zogen sie fahnenschwingend in den Tod. Danach erduldeten sie weiter das Unrecht der herrschenden Verhältnisse. Schließlich jubelten sie ihrem Schlächter Hitler zu.
Mit Kollegen in Frankfurt und dann im Exil suchte Adorno nach Erklärungen. Er kam zum Schluss: Die Menschen sind sich selbst fremd gemacht. Er nannte das biblisch den Verblendungszusammenhang.
Über das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn schrieb er während der Judenvernichtung, im Krieg. In Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (S. 28). Für ihn zerstörte der Faschismus auch eine philosophische Welt: Eine Negative Dialektik führte von der Aufklärung und dem Fortschritt in die Barbarei.
Deshalb die radikale Verweigerung. Die er später nie mehr anstrebte. Deshalb die absolute Unversöhnlichkeit: „Es gibt nichts Harmloses mehr. [...] Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt [...] und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält“ (S. 28).
Adornos aphoristische „Lehre vom richtigen Leben“ (S. 7) erschieng 1951. Im verwüsteten, von der Menschheit geächteten Deutschland. In der politischen Restauration des Kalten Kriegs. Im Schweigen über Auschwitz. Aristoteles wird die Magna Moralia zugeschrieben. Minima Moralia ist das Gegenteil: Nach dem Mord bleibt höchstens ein Minimum an Zivilisation.
Adorno las, wie die arbeitenden Menschen ihre Beziehungen zu anderen Produzenten für Beziehungen zwischen ihren Produkten halten. Er sah, wie ihr Leben außerhalb der Arbeitszeit beschädigt wird. Mit einem ewig unerfüllten Versprechen: Dass all ihre Träume und Leidenschaften durch den Konsum von Waren befriedigt werden.
Adorno beklagte, wie seine bürgerliche Kultur zu Waren und Zierrat verkommt. Zu den größten Verblendern zählte er die Kulturindustrie: „Aus jedem Besuch des Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit dümmer und schlechter wieder heraus“ (S. 29).
Der Faschismus hatte nur die Wahl gelassen zwischen Resistenz und Kollaboration. Der Widerstand im Zugabteil ist der Widerspruch. Gegen die monströsen Ansichten über den Mord. Doch wenn das Leben „zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums“ (S. 7) wird, stellt sich die Wahl erneut.
Selbst der seichteste Smalltalk – auch als banalster Zeitungsartikel – verlangt Widerspruch: „Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch miteinander reden kann, und das lose, gesellige Wort trägt bei, das Schweigen zu perpetuieren, indem durch die Konzessionen an den Angeredeten dieser im Redenden nochmals erniedrigt wird“ (S. 29).
Über die „Erfahrungen nach der Rückkehr“ aus dem Exil plante Adorno eine Fortsetzung der Minima Moralia. Bisher sind bloß einige Notizen davon veröffentlicht (Frankfurter Adorno Blätter, VII, VIII). Der Titel sollte Græculus lauten. Adorno verglich sich mit den kleinen griechischen Hauslehrern der reichen Römer. Sie waren gebildeter als ihre Herrn, aber machtlos. Deshalb verspotteten Cicero und Juvenal sie.