ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Die Waisenkinder

d'Lëtzebuerger Land du 16.12.2022

Die CSV sucht einen Spitzenkandidaten (m/w). Bewerbungen sind zu richten – an wen eigentlich?

In den größeren Parteien liegt die Macht bei den Regierungsmitgliedern. Danach bei der Parlamentsfraktion. Am Ende beim Parteiapparat. 2013 verlor die CSV ihre Regierungsmitglieder. Wer hatte nun das Sagen?

Es entbrannte ein Machtkampf zwischen Parlamentsfraktion und Parteiapparat. Die Fraktion komplottierte gegen den Parteipräsidenten und gewann.

Wer sucht nun den nächsten Spitzendkandidaten aus? Die Fraktion oder die Partei? Die Bewerbungen lassen auf sich warten. Manche nennen den nächsten Spitzenkandidaten einen Kamikaze.

Kamikaze opfern sich für den Sieg. Die CSV sucht jemand, der sich für die Niederlage opfert. Die Wählerbefragungen sind hartnäckig: Alle sechs Monate sagen sie der CSV den Verlust eines Viertels der Parlamentsmandate voraus. So wie sie ihr ab 2014 alle sechs Monate einen Wahlsieg prophezeiten.

2018 war die CSV von der Rückkehr an die Macht überzeugt. Ihren Spitzenkandidaten sah sie als nächsten Regierungschef. Der Nationalrat durfte zwischen vier Anwärtern wählen: Luc Frieden, Martine Hansen, Viviane Reding und Claude Wiseler.

2023 könnte der Spitzenkandidat Minister unter Xavier Bettel oder Paulette Lenert werden. Er dürfte Oppositionsabgeordneter bleiben. Die Aussichten verringern die Zahl der Bewerber.

Die CSV will die Suche nicht aufgeben. Sie muss die Ernennung eines Spitzenkandidaten hinauszögern. Offiziell will sie „den Fehler von 2018“ nicht wiederholen. Damals bestimmte sie ihren Spitzenkandidaten zwei Jahre vor den Wahlen. Am Wahltag nannte sie ihn „verbrannt“.

Die CSV will lieber einen anderen Fehler von 2018 wiederholen: Damals hatte sie „einen Plan“. Sie wollte ihren Regierungsplan ganz spät und scheibchenweise veröffentlichen. Um die Spannung zu steigern. Am Ende waren die Wahlen gelaufen. Die Welt wartet noch immer auf den Plan. Vielleicht auch nicht.

Schon denkt die CSV an einen „Plan B“. Falls keine brauchbare Bewerbung eingeht. Dann gibt sie sich mit Spitzenkandidaten in den Wahlbezirken zufrieden. Das wird den Wahlkampf auf einen Dialog zwischen Xavier Bettel und Paulette Lenert beschränken. Die CSV tröstet sich: Auch die DP hatte 2013 keinen nationalen Spitzenkandidaten.

In der CSV denkt man an eine Handvoll Anwärter: die Fraktionsvorsitzenden Martine Hansen und Gilles Roth, Wahlverlierer Claude Wiseler, selbst Handelskammerpräsident Luc Frieden. Fast dieselben Überbleibsel der Juncker-Ära wie 2018. Ihre beste Zeit liegt zehn Jahre zurück. Als Nachwuchs folgen in der Beliebtheitsskala der Ilres: ein Schwiegermutterliebling und ein gut gelaunter Pfadfinder, Serge Wilmes und Paul Galles.

Keiner besticht durch persönliche Ausstrahlungskraft. Keiner verkörpert einen gemeinsamen Nenner für die Klassenwidersprüche in einer Volkspartei. Keiner vermittelt der niedergeschlagenen CSV ein neues Selbstwertgefühl wie Etienne Schneider einst der LSAP. Keiner macht glaubhaft, es besser zu können als Xavier Bettel oder Paulette Lenert.

Alle sehen verloren aus. Sie sind Waisenkinder des CSV-Staats. Sein wirtschaftlicher Fordismus, sein sozialer Paternalismus, sein ideologischer Konservatismus werden nicht mehr gebraucht. Der CSV-Staat konnte der liberalen Modernisierung nicht widerstehen. Die von den CSV-Politikern Muhlen, Colling, Rau, Frieden, Wolter, Mosar, Thiel vorangetrieben wurde. Die Säkularisierung, der Wettbewerb, die Gier lösten das Netz der Vereine und Einrichtungen „mam C“ auf. Die ein Jahrhundert lang seine Hegemonie sicherten. Das Bistum wurde privatisiert, das Luxemburger Wort verkauft, die Nonnenspitäler wurden Profitcenter.

Der Niedergang des CSV-Staats zerriss die dynastische Kette der „natürlichen Spitzenkandidaten“: Schier ewig band sie die christlich-sozialen Regierungspatriarchen an die von ihnen ausgewählten Thronfolger. Wie soll die CSV nun einen künstlichen Spitzenkandidaten finden?

Romain Hilgert
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