ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Dieser schreckliche Geruch

d'Lëtzebuerger Land du 25.11.2022

Es gibt unproduktive gesellschaftliche Gruppen. Dazu zählen Kleinkinder, Rentnerinnen und Schwerbehinderte. Sie leisten noch keine Lohnarbeit oder keine mehr. Sie produzieren den besitzenden Klassen keinen Mehrwert. Im Hochkapitalismus des 19. Jahrhunderts blieben sie ökonomisch unbeachtet. Im Sozialstaat des 20. Jahrhunderts wurden sie als Unkosten verbucht. Im Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts wurden sie als „business opportunity“ entdeckt.

Dazu verabschiedeten CSV und LSAP 1998 das ASFT-Gesetz. Ergänzt durch die Pflegeversicherung und die Chèques services kommerzialisierte es die Sozialbetreuung. Private Geschäfte dank öffentlicher Gelder wurden zur Boombranche. Kleinkinder, Alte und Schwerbehinderte sind wehrlose Kunden. „Les gens n’imaginent pas ce que ce secteur génère comme cash...“ (Victor Castanet, Les Fossoyeurs, Paris, 2022, S. 311).

Die Fédération luxembourgeoise des services d’éducation et d’accueil pour enfants (Felsea) gehört zum Handelsverband. Sie vertritt 240 Kinderkrippen mit 8 200 Plätzen und 2 170 Beschäftigten. Die Confédération des organismes prestataires d’aides et de soins (Copas) zählt 54 gemeinnützige und gewerbliche Mitglieder mit 6 400 Betten und 11 000 Beschäftigten. Krankenhäuser sind dabei, Dienstleistungskonzerne zu werden. Selbstständige Ärzte wollen sich ungehindert als Unternehmer entfalten. Die sozialdemokratische Gesundheitsministerin Paulette Lenert lächelt verständnisvoll.

Anfang des Monats erteilte Familienministerin Corinne Cahen dem Alters- und Pflegeheim „Récital“ in Merl eine Betriebsgenehmigung. Es wird von Orpéa Luxembourg exploitation s.à r.l. betrieben. Die französische Gruppe Orpéa und ihre Luxemburger Briefkastenfirmen wurden durch das Buch Les Fossoyeurs bekannt. Es berichtet, wie Orpéa die Gesundheit und Würde von Pflegebedürftigen und Angestellten zu Geld macht. „Déjà, il y avait cette odeur de pisse terrible, dès l’entrée. Et je savais que c’est parce qu’ils n’étaient pas changés assez régulièrement“ (S. 21).

Für die Zulassung von Orpéa kam Les Fossoyeurs ungelegen. Copas-Präsident Marc Fischbach gab der Familienministerin Rückendeckung: „Et ass ganz kloer, dass mir hei jidferengem mussen en Agrément ginn, esouwäit en d’Conditioune vun der Lëtzebuerger Gesetzgebung erfëllt“ (RTL, 6.8.22).

Das ASFT-Gesetz besagt in Artikel zwei: „Pour obtenir l’agrément, les requérants doivent: a) remplir les conditions d’honorabilité...“ In Frankreich haben fast hundert Familien Orpéa wegen Misshandlung und fahrlässiger Tötung verklagt. Das französische Wirtschaftsministerium wirft Orpéa die Veruntreuung von 55,8 Millionen Euro Pflegegeldern vor. Für das Familienministerium und die Copas ist das keine Unehre.

Mit Pflegeheimen in Merl und Strassen pflegt Orpéa seinen Börsenkurs: „Orpéa s’est développé au pas de charge hors des frontières. Les achats de terrains et la construction d’établissements étaient financés uniquement par des prêts. Une politique d’expansion destinée notamment à séduire la Bourse“ (Libération, 14.11.22).

Die liberale Familienministerin war Geschäftsfrau. Sie hat Verständnis. Schon während der Covid-Seuche war ihr die Gewerbefreit der Altersheime eine Herzensangelegenheit. Die Heime impften die Buchhalter statt der Putzfrauen. Hunderte Alte starben.

Der Börsenwert von Orpéa ist in einem Jahr um 90 Prozent gefallen. Die Schulden betragen 9,5 Milliarden Euro. Der Buchwert der Immobilien musste um zwei Milliarden gesenkt werden. Vergangene Woche kündigte Orpéa einen „Plan de refondation“ an. Er soll den Konkurs verhindern.

Das Heim in Merl zählt sich zur Luxusklasse. Das kleinste Zimmer kostet anderthalb Mindestlöhne Miete. Fällt der Börsenkurs weiter, bieten sich die altbewährten Mittel an: den Kollektivvertrag umgehen, die Marmelade extra verrechnen, die Suppe der Alten mit Wasser strecken.

Romain Hilgert
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