„Ich will nicht mehr. Ich will raus und spielen!“ Den ganzen Tag über war der eigentlich ruhige Pablo* (Name der Redaktion bekannt) schon schlecht gelaunt. Nicht mal Bücher, in die er sich bei Frust sonst verkroch, halfen ihm. Am Freitag hatte er die Zähne zusammengebissen: Es war der zweite Geburtstag, den der 13-Jährige ohne Fest und Freund/innen feiern musste. Und dann die vielen Hausaufgaben am Wochenende! Diese Woche neben Lesen noch Französischgrammatik und außerdem die Épreuves standardiséees, die sich über acht Tage hinzogen. Jetzt kullerten die Tränen. „Ich kann das Wort Pandemie nicht mehr hören. Wann ist es endlich vorbei?“, fragte der Sechstklässler schluchzend.
So wie Pablo geht es vielen Schüler/innen in Luxemburg: Seit Wochen und Monaten werden sie ver- und getröstet, ein normales Leben findet nicht statt. „Außer Schule und zuhause gibt es nicht viel, weil ausgleichende Aktivitäten wegfallen“, sagt die Pädagogin Diane Dhur. Sportvereine haben Treffen arg eingeschränkt, Chöre singen nicht, Kinobesuche sind nur mit großem Abstand – ohne Essen und Trinken – erlaubt. Für Pablo war es mit dem Ausbruch getan; eine halbe Stunde später hatte er sich wieder gefangen und saß vergnügt mit seiner Oma, einen Zeichentrickfilm zu schauen. Sie ist grad zu Besuch und beschäftigt sich mit ihm, weil seine erwerbstätige Mutter spät aus dem Büro heimkommt.
Das Glück haben aber längst nicht alle Kinder. Manche Schüler/innen sind seit Monaten in gestressten Familien, halten den Druck nicht mehr aus, können ihre Wut und ihren Frust nicht länger kontrollieren und fallen in der Klasse wegen ihres unruhigen und aggressiven Verhaltens auf. Sie landen bei Diane Dhur und ihrem Team: Dhur, eine ehemalige Lehrerin und Grundschulinspektorin, leitet heute das Kompetenzzentrum für sozio-emotionale Entwicklung im Schloss Munsbach. Wir sitzen in ihrem Büro. Um dorthin zu gelangen, muss man über alte Stiegen, die knarzend nachgeben, in den ersten Stock. Obwohl es ein Schloss mit dicken Mauern ist, wirkt das Ambiente hell und ansprechend.
„Wir haben zwischen Januar und heute viermal mehr Hilferufe und Anmeldungen als zu normalen Zeiten“, mahnt Dhur und man kann die Dringlichkeit in ihrer Stimme hören. Normalerweise kennt ihr Team die Eltern und Kinder, die bei ihnen Hilfe suchen: „Viele haben eine Vorgeschichte, sind aufgefallen, weil sie den Unterricht stören oder hohe Fehlzeiten haben.“ Inzwischen aber meldeten sich auch Mütter und Väter, deren Kinder bislang keine Schwierigkeiten mit dem Lernen hatten, die gerne in die Schule gegangen sind: „Viele Kinder stehen wegen der Ausnahmesituation unter großem Druck. Die, die zu uns kommen, haben Angststörungen oder Panikattacken.“ Auch Niedergeschlagenheit bis hin zu regelrechten Depressionen und ein verstärktes Suchtverhalten bei Jugendlichen haben ihre Mitarbeiter/innen beobachtet. Die Pädagogin ist besorgt: „Die wahren Verlierer/innen dieser Krise sind unsere Kinder und die Jugendlichen. Für sie sind die Einschnitte am größten.“
Davor, dass die Pandemie den Jüngsten in der Gesellschaft besonders zusetzt, warnen Kinderärztinnen, Psychologen, Erzieherinnen seit längerem. Während manche älteren Menschen die Pandemie mit ihrem Leben bezahlen, verlangen die vielen Beschränkungen gerade den Kleinen viel ab: „Es ist ein Drama für Kinder, wenn sie nicht einfach raus, Freunde treffen und sich ausprobieren können“, sagt Dhur. Der Wechsel zwischen A- und B-Wochen, die strengere Maskenpflicht für Grundschüler/innen ab sechs Jahren, die seit Februar auch im Klassensaal gilt: „Den Kindern wird viel Anpassungsvermögen abverlangt“. Manche Kinder reagieren auf den Dauerstress mit Aggressivität, andere ziehen sich zurück, fressen den Kummer in sich hinein oder richten die Wut gegen sich selbst, in dem sie sich selbst verletzen, ungesund essen oder lethargisch werden. „Sie machen mir fast noch mehr Sorgen, denn ihr Leiden ist leicht zu übersehen und dann kann es zu Kurzschlusshandlungen kommen“, warnt Dhur.
Leider scheint noch nicht überall angekommen zu sein, was für ein psychischer Druck auf vielen kleinen Schultern lastet: Lehrkräfte geben (zu) viele Hausaufgaben und nicht selten komplett neue Kapitel auf, obwohl der Stoff unbekannt ist und noch gar nicht in der Klasse besprochen wurde. Bildungslücken vertiefen sich zwischen Schüler/innen, die ein unterstützendes Elternhaus haben, und denen, wo Mutter und Vater keine Zeit haben, nach dem Rechten zu schauen. „Nicht jedes Kind hat Eltern, die mit ihm die Hausaufgaben machen und lernen“, weiß Diane Dhur. Anfang April sollen die Ergebnisse der Leistungstests vorliegen; es ist zu befürchten, dass auch für Luxemburg gilt, was bereits in anderen Ländern beobachtet wurde: Die ungleichen Startbedingungen drohen sich durch die Pandemie zu verschärfen. Manche Lehrkräfte versuchen dem entgegenzuwirken, indem sie noch mehr verlangen – mit der Folge, dass der Druck wächst, Schüler nicht nur Ängste wegen eines unsichtbaren Virus verarbeiten müssen, sondern auch noch die vor dem eigenen Versagen.
Dabei geht es nicht nur um gute Noten. „Schule ist mehr als ein Ort zum Lernen, sondern auch zum Leben“, betont Dhur. In der Schule treffen Kinder und Jugendliche Freunde, sie testen sich aus. Diane Dhur und ihr Team haben daher einen Leitfaden zusammengestellt: Haut ass näischt méi wéi et war – Heute ist nichts mehr, wie es war, heißt er und auf dem Cover sind drei Jugendliche zu sehen, die sich gegenseitig stützen. Die 35-seitige Broschüre richtet sich an Lehrer/innen und will „ein Ressourcenkoffer für den Unterricht“ während der Pandemie sein.
Aber eben nicht entlang herkömmlicher Stunden- und Lehrpläne: Es geht um die emotionalen Ressourcen und darum, wie die Resilienz der Schüler/innen gestärkt werden kann. Das erste Kapitel ist der emotionalen Entwicklung gewidmet: Lehrkräfte sind aufgefordert, Informationen zu Corona altersgerecht aufzuarbeiten, ehrlich und zugleich einfühlsam über Gesundheitsrisiken zu reden, und die Eltern einzubinden. Es geht darum, in Schule und Kindergarten eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen und wo sie Vertrauen haben, eigene Sorgen anzusprechen. Resilienzforscher/innen haben herausgefunden, dass positive Erlebnisse, Strukturen, die Geborgenheit und Rhythmus vermitteln, und regelmäßige soziale Kontakte in Krisenzeiten besonders wichtig sind. Es braucht Mut und Raum, um über Gefühle zu reden. Lehrkräfte werden ermutigt, im hektischen Schulalltag innezuhalten, Atem- und Bewegungsübungen einzubauen und aufeinander zuzugehen.
„Achtsamkeit“ ist ein Wort, das im Leitfaden, aber auch in Dhurs mündlichen Ausführungen immer wieder fällt. „Wenn wir aufeinander achten, wenn Lehrkräfte sehen, da ist ein Kind, das sich zurückzieht, das nicht mehr mitkommt, können sie präventiv handeln“, ist ihre Hoffnung. Lehrpersonen, aber auch Eltern, werden unterstützt mit Weiterbildungen, die (nicht nur) von ihren Mitarbeiter/innen am Lehrerinstitut Ifen respektive direkt im Schloss Munsbach angeboten werden.
Wie schwer es ist, achtsam zu sein und sich nicht zu überfordern, stellen Dhur und ihr Team im eigenen Arbeitsalltag fest: So groß sei die Nachfrage nach Hilfe, dass die Mitarbeiter/innen inzwischen wählen müssten, welchem Kind sie als erstes helfen, wer die Hilfe am dringendsten braucht. „Wir können uns nicht mehr in dem Maße Zeit nehmen wie vor der Krise.“ Damit ihre Mitarbeiter/innen nicht selbst vor Erschöpfung „ausbrennen“, hat Dhur eine Supervision eingerichtet. Entspannungsübungen und klar definierte Pausen im Garten sollen Momente der Erholung schaffen. „Manche Kinder kommen hierher und für sie kehrt so etwas wie Ruhe ein“, erzählt die Pädagogin. Draußen klopfen Männer auf Steinen, rücken Platten zu einem Weg zusammen. „Das wird ein Parcours der Achtsamkeit. Wir wollen unter freien Himmel kleine Stationen einbauen, an denen Besucher innehalten können“, erklärt Diane Dhur..