Die seit März außergewöhnlichen Zeiten ermöglichen kontrastierende Beobachtungen zwischen „Vor Corona“, „Während des Lockdown“ und „Nach Corona“. In den Wochen der Kollektiv-Quarantäne konnte man – wenn auch sicher nicht überall – eine Realität erleben, die den Nachkriegsjahren ähnelte: Kinderstimmen, Kinder, die tagsüber auf der Straße spielen, Kreidebilder auf der Fahrbahn, radelnde Eltern mit ihren gerade das Radfahren lernenden Kindern, die sich mitten auf der Straße bewegen können, während uns sonst eine eher sterile Ruhe umgibt. Das erinnerte an die Zeiten des männlichen „Breadwinner“ mit seiner Frau, die als „Caregiver“ für Kinder, Küche, Kirche und die ältere Generation zuständig war und dem Arbeitsmarkt fernblieb. Zwischen diesem vergangenen und dem „Vor Corona“-Zustand liegen Welten: Die volle Verantwortung für das Kleinkind besaß in jenen Jahren die Familie; der Staat intervenierte lediglich subsidiär mit einem sehr bescheidenen Angebot an Tagesplätzen für die Kleinsten „aus schwierigen Verhältnissen“, während seit rund 20 Jahren der Staat einen immer größeren Teil der non-formalen Bildung und Betreuung übernimmt.
Das korporatistisch-konservative Wohlfahrtsregime der 1980er
Kleinkindbetreuung und -erziehung können sowohl als Teil der Erziehungspolitik als auch als Teil der Wohlfahrtspolitik eines Staates betrachtet werden. Kommen wir zunächst zu Letzterer: Luxemburgs korporatistisch-konservatives Wohlfahrtsregime (Esping-Andersen) der 1980er Jahre enthielt einen ausgeprägten „Familialismus“. Frauen/Eltern waren verantwortlich für die Kleinsten bis fünf Jahre. Auch die katholische Kirche spielte hier eine zentrale Rolle. Im Gegensatz dazu steht im universal-sozialdemokratischen, skandinavischen Modell ein egalitärer Ansatz: Beide Eltern arbeiten Vollzeit; Sozialversicherungen und soziale Dienstleistungen werden großzügig vom Staat angeboten und durch hohe Steuern gedeckt – mit voller Zustimmung und aus Beiträgen (durch Vollzeittätigkeit) der Bürger. Diese fühlen sich verantwortlich für ihren Staat; die Wirtschaft muss stärker als im korporatistischen (und noch mehr im liberalen) Regime dieses universal-sozialdemokratische Modell kofinanzieren. Die protestantische Kirche und traditioneller Familialismus spielen kaum eine Rolle. Im EU-Vergleich stehen die skandinavischen Staaten meist an oberster Stelle: Ihre Werte gelten in vielen Bereichen als Maßstab und als die von den anderen Mitgliedstaaten zu erreichenden Ziele.
Luxemburgs Regime der 1980er bot die klassischen Versicherungen sowie eine Reihe Geldleistungen, die alle auf dem traditionellen Familienmodell basierten: Kindergeld, Zulagen für die Erziehungsarbeit, Zulagen für und um die Geburt (mit demografischen Zielen) sowie Leistungen zur Betreuung älterer oder behinderter Menschen. Betreuungsdienste bot es jedoch kaum an.
Zwei Kräfte gingen gegen dieses Regime vor: Feministische Gruppen, die den Finger auf die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen legten, und seit 1997 im Rahmen einer sich stetig globalisierenden Wirtschaft die europäischen Strategien: die Europäische Beschäftigungsstrategie, die Lissabon-Strategie und Europa 2020. Für die Wirtschaft ist es immer wünschenswert, ein breiteres Angebot Beschäftigungswilliger zu haben.
In den 1980er Jahren richtete die EU-Kommission zwei Observatorien ein. Das eine erforschte die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, das andere die Kinderbetreuung. Das erste Observatorium kategorisierte die damaligem Länder der EU-15 in folgende drei Regimes:
Im ersten Regime waren die Frauen bis zur Geburt des ersten Kindes berufstätig, verließen dann definitiv den Arbeitsmarkt. Die Frauen-Beschäftigungsquoten waren niedrig (1985-88: in Luxemburg 38 Prozent, in Irland 23 Prozent der Frauen mit Kindern im Alter von null bis zehn).
Im zweiten Regime verließen die Frauen nach der Geburt des ersten Kindes den Arbeitsmarkt zeitweilig und kehrten nach ein paar Jahren wieder zurück; in den betreffenden Ländern gab es mittlere Frauen-Beschäftigungsquoten. Im dritten Modell nahmen die Frauen lediglich den Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaub in Anspruch und arbeiteten bis zur Pensionierung in Vollzeit weiter. In diesen Ländern waren die Frauen-Beschäftigungsquoten fast identisch mit denen der Männer (etwa in Dänemark: 79 Prozent). Die Autoren des Observatoriums plädierten zur Verhinderung der Armutsfalle für Kinder und für Frauen im Alter für Vollzeittätigkeit der Frauen1.
Das zweite Observatorium (Moss, 1988) untersuchte das quantitative Angebot zur Kinderbetreuung. Luxemburg und Irland (beide katholisch) waren mit öffentlichen Betreuungsplätzen für lediglich ein bis zwei Prozent der Null- bis Dreijährigen das eine Extrem, Dänemark mit 48 Prozent das andere. Moss (1988) erklärte diesen Unterschied auch mit einer Präsenz der Freudschen Psychoanalyse in germanophonen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg, Niederlande) sowie in Großbritannien: Die Psychoanalyse suggeriere zur Herausbildung des Ego während der ersten drei Lebensjahre implizit eine Erziehung und Betreuung in einem familialen Kontext – im Gegensatz zur kollektiv betreuten Kindheit. Die wenigen subsidiär angebotenen Plätze standen in den betreffenden Ländern Familien zur Verfügung, die die Versorgung nicht selbst übernehmen konnten (Einelternfamilien, sozial/psychisch, beziehungsweise ökonomisch schwache Eltern); damit galt die Institutionalisierung der Betreuung der Kleinsten damals als stigmatisierend.
Allgemein galt, dass ein Kind bis zum Alter von drei bis vier Jahren in der Obhut der Mutter blieb und der Staat in diesem Bereich keine Kompetenz hatte. Die Beschäftigungsquoten der Frauen waren sehr niedrig. Dagegen wurde in Frankreich (Moss, 1988) – basierend auf einer impliziten Präsenz von Jacques Lacans Kritik an einer zu engen Mutter-Kind-Symbiose – es den Frauen erleichtert, nach der Geburt ihres Kindes auch in Vollzeit weiterzuarbeiten. Die Frauen-Beschäftigungsquote war entsprechend höher; es gab viele Hilfen für die Kinderversorgung (substanzielle Steuerhilfen, ein Netz von Tagesmüttern und Institutionen), die vielleicht damals in den familial-orientierten Staaten nicht gewirkt hätten. Sicher wäre es zu kurz gegriffen, verschiedene psychoanalytische Schulen als alleinige Ursache unterschiedlicher Sozialisationsmuster und Wohlfahrtsmodelle zu sehen. Gesellschaftliche Traditionen setzen sich ja aus vielen Elementen zusammen.
Die EU-Beschäftigungsstrategie
Die EU-Kommission plädiert seit dem Start der Europäischen Beschäftigungsstrategie im Jahre 1997 für eine Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen von 60 Prozent und in Folge für einen Ausbau der Kinderbetreuungsplätze. In Luxemburg sah erstmals 1998 ein nationaler Aktionsplan vor, bis zum Jahr 2000 tausend zusätzliche Betreuungsplätze zu schaffen. Das war zwar noch keine strenge Zielsetzung, aber eine erste radikale Abkehr vom gängigen, subsidiären und minimalen Modell: Zum ersten Mal übernahm der Staat explizit Verantwortung in der Kleinkindphase.
Dieser Punkt wurde damals öffentlich nicht diskutiert, denn das korporatistisch-konservative Modell war fest verankert, und der Modernität skandinavischer Ziele beziehungsweise Gleichstellungsstrategien hätte man wohl nichts entgegengesetzt. Der EU-Gipfel von Barcelona 2002 forderte Plätze für 90 Prozent der Kinder von drei Jahren bis zur Schulpflicht und für 33 Prozent der Kinder unter drei Jahren. Das sollte der Gleichstellung sowie gleichen Bildungschancen der Kleinsten dienen und Kinderarmut und Altersarmut der Frauen verhindern2. Prioritär ging es darum, die Frauen zu aktivieren, was auch gelang: Die Frauen-Beschäftigungsquote stieg in Luxemburg von 44 Prozent im Jahr 1996 bis auf 64 Porzent im Jahr 2019. Die Beschäftigungsquote der Männer lag 1996 bei 74 Prozent und 2019 bei 72,1 Prozent.
Entsprechend gestaltet sich die Erweiterung der Betreuungsdienste, um die Frauen für den Arbeitsmarkt freizustellen, wie die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt.
Folgende Maßnahmen können im Zusammenhang mit dem massiven Anstieg gesehen werden: die Einführung der Früherziehung (Éducation précoce) 1998, die der Maisons relais 2005, der Chèques-service acceuil (CSA) 2009 und der Mini-crèches 2019. Der Anteil privater Krippen und Kindertagesstätten vergrößerte sich gegenüber den öffentlich-konventionierten Häusern zusehends, auch wenn der Staat – um seinen in den EU-Agenden festgelegten Zielen gerecht zu werden – finanziell schwächeren Familien den Zugang zu den privaten Institutionen durch Chèques-service und zuvor mit einer Zusatzfinanzierung ermöglichte. Akteure dieser verschrienen „Vermarktlichung“ der Kleinstkinderziehung sind kommerzielle Krippen, Tagesstätten und Tagesmütter, von denen besonders Letztere immer als „parent pauvre“ des Betreuungssystems galten: In diesem Bereich hat der Staat am wenigsten Kontrolle, aber offensichtlich ist dieses Angebot für bestimmte Eltern das flexibelste, familiärste und adäquateste3.
Defamiliarisierung der Wohlfahrtspolitik
Die massive Erweiterung dieses Bereichs führte zu dem, was in der Wohlfahrtspolitik als „Defami-
liarisierung“ bezeichnet wird: Die Frau als familiärer „Caregiver“ und der Mann als „Breadwinner“ verschwinden. Pflege und Betreuung der älteren und der jüngsten Menschen wird der Familie vom Staat abgenommen. Der Staat übernimmt die non-formale Erziehung und Betreuung der Kleinsten. Die formale Erziehung ist seit Jahrzehnten in staatlicher Hand, sie wird staatlich konzipiert und finanziert. Der Schulbeginn hat sich immer weiter nach vorn verschoben. Ziel ist ein breites Gratis-
angebot non-formaler Betreuung und Erziehung, was wohl angesichts gigantischer aktueller Ausgaben aufgeschoben werden wird. Derzeit werden 20 Stunden pro Woche CSA gratis angeboten; jede weitere Stunde wird je nach Zusammensetzung und Einkommen der Haushalte verrechnet. Kann dies als staatliche Anregung zu einer begrenzten Benutzung der „Services d’éducation et d’accueil pour enfants“ (SEA) verstanden werden?
In den Jahren nach 2000 galt es zuerst, im Sinne der EU-Strategien quantitativ zu agieren. Die Zahl der Plätze sollte so schnell wie möglich steigen. Erst seit einigen Jahren macht man sich Gedanken um Qualität, pädagogische Ziele und Inhalte: Eines der zuletzt diskutierten Elemente ist die Spracherziehung, „Sprache und Sprachen in der frühen Kindheit“. Sie soll zum einen Migrantenkinder auf die luxemburgisch- und deutschsprachige Alphabetisierung vorbereiten, zum anderen den germanophonen Migrantenkindern das Französische näherbringen. Institutionen, die via CSA eine staatliche Finanzierung erhalten wollen, müssen dem Sprachprogramm gerecht werden, sprich französisch- und luxemburgischsprachige Erzieher im Team haben. Ausgenommen sind die Tagesmütter, die auch ohne Erfüllung des Sprachprogramms CSA-finanzierte Kinder aufnehmen dürfen. Sie sind gewissermaßen die letzten Elemente der ehemaligen familialen Erziehung; ihr Anteil wird absolut und proportional kleiner, der Schwerpunkt liegt auf der kollektiven institutionellen Erziehung und Betreuung. Dabei handelt es sich um eine Ökonomisierung durch deutlich schneller wachsende privat-kommerzielle Strukturen (Honig et al., 2015) und um eine Verstaatlichung der Betreuung und Erziehung für den gesamten SEA-Bereich: Die Familie hat einen wichtigen Teil ihrer Verantwortung abgegeben.
Das kollektive Zusammensein der Kleinsten soll in Luxemburg in optimaler Form stattfinden. Skandinavische Institutionen standen dabei Pate4. Die Ratio Erzieher/Null- bis Zweijährige von eins zu sechs ist im EU-Vergleich wohl günstig. Doch wie häufig ist die Rotation des Personals –Tagesmütter ausgenommen –, und wie oft wechseln Kinder in andere Gruppen oder Institutionen? Wie wirkt die gleichzeitige Kombination verschiedener Betreuungsformen sich auf das Wohlbefinden eines Kindes aus?
Dass der Staat seine „Social investment strategy“ (Honig et al., 2015) mittlerweile in Sachen luxemburgischer Sprache konsolidiert, ist verständlich: Weit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung sind Ausländer, würde man die Migranten, die mit doppelter Nationalität seit 2008 nur als Luxemburger gezählt werden, berücksichtigen. Der wettbewerbsorientierte Wirtschaftssektor funktioniert zu 80 Prozent mit Migranten und Grenzgängern sowie einer Minderheit von Staatsbürgern. Heute gilt es, das Charakteristikum des Nationalstaates via Spracherziehung der zwei wichtigsten Sprachen zu erhalten; Betreuung alleine reicht da nicht aus. Eine Bindung an den Staat gilt es den zahlreichen Migrantenkindern über das Sprachprogramm zu vermitteln.
Der Bruch mit der katholischen Kirche ist ein weiterer Stein in dem sich mehr und mehr universal gestaltenden Mosaik. Dazu kommt ein seit Jahrzehnten besserer Ausbildungsstand der Frauen im Vergleich zu den Männern: Das betrifft die Schule, die Universität (OECD: Education at a Glance), die ersten Karrierejahre mit höheren Gehältern, und es nehmen auch immer mehr Frauen höchste politische Positionen ein. Angesichts der Erfolge bei der Gleichstellung – nicht aber bei der Armutsverhinderung – ist es nicht verwunderlich, dass im Programme national de réforme Luxemburgs von 2019 im Rahmen der Strategie Europa 2020 die Erhöhung der Frauen-Beschäftigungsquote nicht mehr figuriert; sie hat längst 60 Prozent überschritten.
Motor Arbeitsmarkt
Motor dieser rasanten Entwicklung vom korporatistischen zum universalen Regime im Laufe der letzten 20 Jahre ist der Arbeitsmarkt mit dem Ziel einer Erweiterung des Rekrutierungspools dank einer höheren Frauen-Berufstätigkeit und eines Familienbudgets mit mehr Konsumkapazität im Sinne einer wachstumsorientierten Wirtschaft. In fine treibt die Wirtschaft. Erstaunlich ist die Geschwindigkeit der Entwicklung, denn meist bremsen konservierende Haltungen radikale Veränderungen. Erklären könnte man die zügige Universalisierung für Luxemburg eventuell durch einen stark internationalisierten Arbeitsmarkt mit einem hohen Anteil hochqualifizierter Ausländer/innen, die vielleicht häufig aus universalen oder liberalen Staaten kommen und die angesichts ihres beruflichen Engagements ohne Zögern SEA-Angebote benutzen. Sowie mit einer „Social inverstment strategy“ seitens der Regierung, die das Primat der Wirtschaft zentral verfolgt.
In Deutschland verlief die Entwicklung ähnlich rasant, obwohl zuvor, wie in Luxemburg, an einer familialen Erziehung der Kleinkinder bis zum vierten Lebensjahr festgehalten worden war. Mütter, beziehungsweise Eltern, die nach der Geburt des ersten Kindes ihr Arbeitsvolumen nicht deutlich reduzierten, galten als Rabeneltern – immer mit Ausnahme der stigmatisierten ökonomisch schwachen Familien. So entschieden sich deutsche Akademikerinnen in einem bestimmten Moment entweder für Kinder und den Abbruch ihrer Universitätskarriere oder für eine volle Orientierung auf die Karriere ohne Kinder. Im Gegensatz dazu verhielten sich französische Frauen schon seit Langem anders.
Wenig erstaunlich ist bei dieser rasanten Entwicklung, dass die Beteiligung der Frauen am Arbeitsmarkt wegen der Gleichstellungsstrategie von allen akzeptiert wurde. Damit war auch der Wirtschaft gedient: „Une mauvaise organisation de la garde des enfants empêche les femmes de participer pleinement au marché de l’emploi, ce qui se solde par un gaspillage des ressources économiques et par une utilisation inefficace de la main-d’œuvre disponible“ (Moss, 1990 : 3).
Welche Bedürnisse hat das Kind?
Über einen Akteur – einen zukünftigen Akteur, der in diesem Moment seine Bedürfnisse nicht äußern konnte – wurde öffentlich nie diskutiert, nämlich über das Kind zwischen null und drei oder das zwischen drei und sechs Jahren. Prioritär waren die Gleichstellungsziele und die Erwartungen der Wirtschaft: „Le développement du réseau des maisons relais […] et des chèques-services d’accueil favorisent la conciliation entre la vie familiale et la vie professionnelle et permettront aux parents […] de confier leurs enfants à une structure d’accueil tout en leur permettant l’accès à un travail et par conséquent à une source de revenus“ (Programme national de réforme 2009). Das Kind ist nicht einmal einen Nebensatz wert.
Die Effekte der frühen Institutionalisierung wurden nicht erörtert: Krippen wurden geschaffen, „um die Bedürfnisse von Familien zu erfüllen, in denen beide Elternteile arbeiten wollen oder müssen, und sie dienen zugleich dem wachsenden Bedarf der Gesellschaft und Wirtschaft an Erwerbstätigen. Sie wurden nicht eingerichtet, um die die Bedürfnisse der Kinder zu erfüllen“ (Juul, J., 2012, Wem gehören unsere Kinder? Weinheim: Beltz: 5).
Langfristige Beobachtungen der Effekte einer plötzlich um zwei und mehr Jahre vorverlegten Erziehung (von fünf auf drei Jahre, beziehungsweise ab dem vierten Lebensmonat) und Betreuung werden erst später gemacht werden können. Doch hätte vielleicht ein Blick ins Ausland Fragen aufwerfen können: In Dänemark galt das universale Regime mit Ganztagsunterbringung der Kinder und Vollzeitberufstätigkeit beider Eltern schon in den 1970er und 1980er Jahren. Die vielen Stunden der Institutionalisierung erkannte man nach einer gewissen Laufzeit als „zu viel“ und empfahl beiden Eltern, in der Kleinkindphase ihres Nachwuchses reduziert zu arbeiten. Dadurch kam es keineswegs zu einer Rückkehr zu „Breadwinner“ und „Caregiver“, was auch nicht wünschenswert gewesen wäre. Doch könnte man sich wegen Corona-Pandemie einige Fragen betreffend früher Betreuung und Erziehung stellen.
Das Zusammensein der Kleinsten in einer Krippengruppe kann besonders für Einzelkinder stimulierende Erfahrungen bieten. Tatsächlich ist schon sehr früh eine Kommunikation zwischen den Kleinsten möglich, doch der Trennungsstress von der Mutter ist für sie zumeist groß. So wissen wir, dass der Aufenthalt in einer Krippe für Babys sehr anstrengend ist: Das Cortisolniveau ist bei ihnen während der Stunden in der Institution so hoch wie das eines CEO5.
Mahler (et al., 1980) beschreibt den Individuationsprozess der Kleinen von null bis drei Jahren, die Autorin geht auf die zentrale Funktion der Mutter in den verschiedenen Phasen ein. Immer gibt die Mutter durch Anwesenheit dem Kind Vertrauen für seine Entdeckungen der Umwelt, sie lässt es jederzeit bei sich „auftanken“. Das Urvertrauen des Kindes in die Mutter gilt als Basis für die Individuation, beziehungsweise für die spätere Entwicklung, für das Sicherheits- und Selbstwertgefühl, basierend auf einer soliden Bindung zwischen Mutter und Kind.
Wie sieht es mit der Bindung im Fall eines frühen Krippenaufenthalts aus? Wieviel nicht-elterliche, nicht-familiale Erziehung ist für das Kleinkind ab wann empfehlenswert? In anderen Worten: „Wieviel Mutter [Vater] braucht ein Kind?“ (L. Ahnert, 2015; Heidelberg: Springer).
Eine präzise Antwort gibt es nicht, da viele Faktoren mitspielen: die Mutter-Kind-Bindung (sicher, unsicher vermeidend ...), die Bindungsfähigkeit der Erzieher mit den sicher oder unsicher gebundenen Kleinsten, der Umgang mit dem einzelnen Kleinkind und der gesamten Gruppe, die Größe der Gruppe und so weiter. Ahnert sieht gewisse Vorteile bei den Tagesmüttern angesichts kleiner Gruppen (in Luxemburg maximal fünf Kinder gleichzeitig), nicht vorhandener Rotation der Betreuer, die sich sehr individuell auf die Kleinsten und die Wünsche der Eltern einstellen können (Bollig et al., 2016; Honig et al., 2015). Doch steht dieser Versorgungsmodus in Luxemburg eher auf dem Abstellgleis.
Immer wieder zeigen wissenschaftliche Studien, dass beschulte (Krippe, Kita) Kinder kognitiv weiter sind als zu Hause erzogene. Für Kinder aus sozial schwachen Familien sollte die frühe Erziehung/Betreuung Fehlendes kompensieren. Damit wird deutlich, dass die SEA – implizit geblieben – gesellschaftlich geltende Hierarchien mit nationalen Mittelschicht-Normen anwenden. Unterliegt nicht häufig der Kompensationswille einer gewissen Arroganz der Institutionen: Der Profi weiß es besser als die Eltern und Letztere sind auch davon überzeugt? (Ahnert, 2015) Migrantenkinder gelten zumeist eo ipso als zu Unterstützende, als sich Anzupassende. Pisa-Luxemburg 2019 bestätigt jedoch erneut, dass nur ein Teil der Migrantenkinder in Luxemburg („three in eight“) aus einem sozial benachteiligtem Milieu stammt. Das erzieherische Ziel kann hier lediglich die nationalen, nicht aber die schichtbedingten Werte visieren.
Normen der Mittelschicht
Staatlich konzipierte und finanzierte Betreuung und Erziehung transportiert Werte und Ziele der dominanten nationalen Mittelschicht. Das hat zur Folge, dass wer dieser Schicht nicht angehört, nicht eo ipso im Einklang mit den Prinzipien der Services d’éducation et d’accueil pour enfants steht, öfter von den Pädagogen kritisiert wird und sich somit in der Institution weniger wohl fühlt als Kinder und Eltern der vorherrschenden Schicht. Wichtig für das Wohlbefinden von Kindern und Eltern im SEA ist die Homogenität der Familien- und SEA-Werte, doch dies gilt nicht für alle: Das mit Marmelade bestrichene Weißbrot des Migrantenkindes wird als schlecht, der Pfannkuchen mit Schoko-Smiley des dänischen Mittelschichtkindes von den Erziehern als angemessen kommentiert6. Verständlich ist dann die bewusst ausgesuchte portugiesische Tagesmutter seitens portugiesischer Eltern im Vergleich zu staatlich gelenkten privaten oder konventioniert-privaten SEA: Kind und Eltern fühlen sich bei der Tagesmutter besser verstanden, daher wohler. Und ergebnisorientierte Lernprozesse können am besten in einem Rahmen des sich Wohlfühlens stattfinden.
Die traditionelle familiale „Erziehung“ der Nachkriegsjahrzehnte gestaltete sich zumeist aktionslos, während Kitas gerne viel Programm anbieten, um ihren Erziehungszielen gerecht zu werden. Die aktionslose Vorgehensweise der prioritär mit dem Haushalt beschäftigten Mütter produzierte ein kreatives Freispiel, zum Beispiel aus einer Situation großer Langeweile heraus, dann aber mit einer nicht-fremdbestimmten Inszenierung. Wo findet sich ausreichend Raum und Zeit, damit Kinder oder kleine Grüppchen in einem SEA ein solches Spiel beginnen und nach ihrem Gutdünken durchführen können? Wieviel Rückzugsmöglichkeit gibt es? Welcher Raum bleibt für die Individuation? Wie gelangen die Kleinsten zu einer sicheren Bindung mit den Eltern?
De facto hat sich der Beginn der informellen Erziehung nach vorne verschoben. Das Sprachprogramm für die Ein- bis Vierjährigen enthält Prinzipien, didaktische Vorgehensweisen, Inhalte und Ziele, die es zu verwirklichen gilt. Worum handelt es sich: um Erziehung, Bildung, Ausbildung, Sprachtraining oder „Nation Building“? Es werden zwei Sprachen (Luxemburgisch und Französisch) vermittelt, um zielgerichtet auf die hiesige komplexe Vielsprachigkeit der Grundschule vorzubereiten. Zweifelhaft wird dieses Unterfangen dann, wenn zu Hause auch zwei davon verschiedene Sprachen gesprochen werden und zum Beispiel der asiatische Junge, der aus seiner italienischen Zeit Italienisch mitbrachte und nun Französisch und Luxemburgisch integrieren muss (Bollig et al., 2016): Vier Sprachen sind definitiv für ein kleines Wesen sehr viel, oft zu viel. Und Luxemburg hat nicht nur eine komplexe Schul- und Betreuungssituation, sondern auch – wie kaum ein anderes europäisches Land – eine komplexe Bevölkerungsstruktur.
Zwei Trends lassen sich hier aufzeigen: In Sachen „Schule“ genehmigt das Ministerium jetzt mit öffentlich finanzierten Internationalen Schulen mehr Alternativen, um der sprachlichen Komplexität und den unterschiedlichen Ausgangssituationen der Kinder gerechter zu werden (Hartmann-Hirsch in Forum Nr. 392: 43-46). Eltern fragen dieses Angebot auf langen Wartelisten nach. Als Gegenpol im Sinne eines homogenen Nationalstaates, von dem sich Luxemburg immer weiter entfernt, kann man das bilinguale Sprachprogramm verstehen: mit Fokus auf die nationale Schule und das Heranwachsen eines „guten – luxemburgischen – Bürgers“ (Bundgaard 2018), ein Ziel, das alle Nationalstaaten verfolgen. Eine Diversität der Werte wäre nötig, wollte man den Kleinsten einen Rahmen des sich Wohlfühlens bieten. Wie könnte man dem Dilemma entgehen? Zum Beispiel indem man die Karten auf den Tisch legt, die leitenden nationalen Mittelschichten-Prinzipien explizit macht, dann aber anderes Verhalten willig und bewusst zulässt. Ein hohes Niveau von Respekt in Sachen „Diversität“ seitens der Erzieher wäre vonnöten – sicher kein einfach zu erreichendes Ziel.
Die Ausbildung, Bildung, Erziehung beginnt mit dem abgeschlossenen ersten Lebensjahr. Gewisse Prinzipien, eben jene dominanten Mittelschichtwerte, müssen all die Institutionen einhalten, die eine Finanzierung vom Staat erhalten wollen – nach dem Motto: „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’“. Vielleicht haben auch Eltern Lust, ihren Kindern Eigenes, Anderes (Schicht-, Ethnie-bedingt) mitzugeben? Wie und wo wird Anders- oder Querdenken unterstützt? Ist nicht Individuation nötig, um selbst denkende kritische Bürger heranwachsen zu lassen?
Anstoß des Ganzen war der Arbeitsmarkt. Ziel der Reformen ist wohl – implizit geblieben – wieder der Arbeitsmarkt, sprich eine Vorbereitung der Kleinsten auf ihre künftige Rolle im Sinne einer „Investition in Humankapital“ (Honig et al., 2015) als „guter nationaler, besser noch globalisierter Bürger und Erwerbstätiger“. Das Primat der Wirtschaft steht im Vordergrund. Erstaunlich war die abrupte Kehrtwendung von der familialen hin zur betreuten Kindheit ohne jegliche Überlegung zu den Bedürfnissen des Kindes. Wieviel Mutter/Vater braucht ein Kind? Wieviel Freiraum von kollektiven Erfahrungen und Bildungsprogrammen braucht ein kleines Wesen, um seinen eigenen Weg, seine Individuation zu finden? Und welche Auswirkungen werden diese einschneidenden Maßnahmen für eine ganze Generation von Kindern haben? Welchen Typus von Bürgern erziehen wir derzeit? Die europäischen und nationalen Strategien haben dies ausgeklammert; es hätte bei der Umsetzung wesentlich gestört.
Und die Corona-Krise?
Zurück zu Corona: Es wäre interessant zu wissen, wie Eltern und Kinder die Wochen im Homeoffice oder im Familien-Sonderurlaub erlebt haben. Wobei es zu unterscheiden gilt zwischen jenen, die sich mit Haus und Garten des glänzenden Wetters erfreuen konnten, und jenen, die mit zwei oder drei Kleinen in einer Wohnung beherbergt das „Bleiwt doheem!“ wortwörtlich nahmen. Respektive jenen Kindern, für die die Institution einen sicheren Fluchtort vor schwierigen Familienverhältnissen darstellt. In Frankreich waren im April zwei Drittel der Eltern entschlossen, ihre Kinder vorläufig nicht in die Schule zu schicken (Tageblatt, 30.04.2020). Das zeigt zumindest, dass die enge familiale Zeit mit den Kindern sehr wohl auch positive Erfahrungen mit sich brachte; ein Elternteil scheint bereit zu sein, vorläufig weiter nicht zu arbeiten.
Interessant wäre ebenfalls zu wissen, wie diese familiale Periode im Vergleich zur normalen Berufstätigkeit mit betreuter Kindheit von den Eltern und von den Kindern erlebt wurde. Wie beurteilen Eltern ihre Wochen ununterbrochenen Zusammenseins mit ihren Kindern mit und ohne Homeoffice, mit und ohne geräumigen Wohnverhältnissen? Studien wie Covid-Kids (Universität Luxemburg) oder Sur les impacts socio-économiques de la crise du Covid-19 (Liser/Statec/Uni Luxemburg) könnten solche Fragen einschließen. Vielleicht erlaubt das für eine Zeitlang erzwungene Innehalten, das Kind spät, aber doch in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen und eventuell die familiale und die betreute/erziehende Kindheit anders zu gewichten.